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Im Saal der Toten

Im Saal der Toten

Titel: Im Saal der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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Biographien und Sekundärliteratur über ihn. Er kam zu mir nach Hause, wo Sie gestern gewesen sind.«
    Keine schlechte Bleibe für einen »einfachen Bibliothekar«.
    Er musste meine Skepsis gespürt haben. »Die Wohnung gehörte meiner Mutter, Ms Cooper. Ich habe sie von ihr geerbt. Sie hat ihr ganzes Leben seltene Bücher gesammelt darunter auch Poe. Dank ihres Familienvermögens – mein Urgroßvater hatte eine Fabrik für Nähgarn, einfaches Baumwollgarn – konnte ich meinen beiden Leidenschaften frönen, dem Gartenbau und der Literatur.«
    »Sind Sie und Tormey Freunde geworden?«, fragte Mike.
    »Er war ein interessanter Mensch. Ich würde nicht sagen, dass wir eng befreundet waren, aber er rief an, wenn er etwas brauchte, und falls ich das Buch besaß, lieh ich es ihm8 gern.«
    »Haben Sie sich auch privat unterhalten?«
    »Unsere Gespräche drehten sich immer um das neunzehnte Jahrhundert, Detective. Weder um Frauen noch ums Tagesgeschehen oder um unser Privatleben, falls Sie das meinen.«
    »Was ist mit dem Rabenverein?«
    »Der kam natürlich zur Sprache. Tormey fragte mich irgendwann, ob er Mitglied werden könne.«
    »Waren Sie zu dem Zeitpunkt schon Mitglied?«, fragte Mike.
    »Ja, man hat mich relativ früh aufgenommen. Ich war gerade auf der Bildfläche erschienen, als der Verein expandieren wollte, und ich hatte mir durch meine Forschungsarbeiten zu Poe einen Namen gemacht. Ich war, glaube ich, Mitte zwanzig, als man mich aufgenommen hat.«
    »Geheimer Handschlag? Mussten Sie mit den Armen flattern? Oder schwören, nie wieder Die Spur des Falken anzusehen oder Rex Stout zu lesen?«
    Zeldin fand das nicht komisch. »Ich reichte einige meiner Aufsätze ein und bewies bei einigen Zusammenkünften mit den Mitgliedern, dass ich mich mit Poes Werk bestens auskannte. Mit Sicherheit machte mich auch meine Sammlung von Erstausgaben zu einem attraktiven Kandidaten.«
    »Also was war mit Noah Tormey? Warum hat man gegen ihn gestimmt?«
    »Er kannte Poes Werke zweifellos genauso gut wie die meisten von uns. Aber dann veröffentlichte er einen Aufsatz in einer Literaturzeitschrift. Hervorragend recherchiert und ziemlich gut geschrieben«, sagte Zeldin.
    Ich musste sofort an Emily Upshaw denken, die einige Artikel für Tormey verfasst hatte.
    »Das Problem war, dass der Artikel all die alten Behauptungen aufwärmte und sie eindrucksvoll belegte.«
    »Die persönlichen Schwächen, von denen Sie uns erzählt haben?« Ich wunderte mich, warum das für Literaturwissenschaftler eine Rolle spielte.
    »Nein, nein, Miss Cooper. Poes Plagiarismus.«
    »Sein was?«, sagte Mike. »Von wem hat er denn abgekupfert?«
    Zeldin seufzte. Dann rief er den Parkverwalter zu sich. »Phelps?«
    Sinclair Phelps kam von nebenan in das kleine Büroabteil. »Ja, Sir?«
    »Würden Sie mir bitte die Mappe mit der Aufschrift ›Tormey‹ bringen. Sie ist dort in dem Schrank an der Wand, in der dritten Schublade von oben.«
    Phelps brachte ihm die Unterlagen und verließ das Zimmer wieder.
    »Wir reden hier über einen jungen Mann, der sich an der Uni etablieren wollte.« Zeldin schlug die Mappe auf und reichte Mike eine Ausgabe der Fachzeitschrift. »Selbstverständlich war der junge Poe noch auf der Suche nach seiner Stimme. In dem Aufsatz werden Sie einige Beispiele finden.«
    Wir nahmen uns einige Minuten Zeit, um die ersten Seiten zu lesen. Tormey zitierte Verse von Poe, die sich nur wenig von denen unbekannter Dichter unterschieden. Hier war Poes Lied:
     
    »Ich sah dich an deinem Hochzeitstag –
    Da rot dir die Wange erglühte …«
     
    Und darunter ein Gedicht von John Lofland, ein Jahr zuvor veröffentlicht:
     
    »Ich sah sie an ihrem Hochzeitstag
    von errötender Schönheit gesegnet …«
     
    Erst gestern hatte ich Tormey über Coleridges Biographia Literaria dozieren hören. In dem vorliegenden Artikel zitierte er ebenfalls Coleridge und dessen klassische Definition von Lyrik als einer Kompositionsgattung, »die sich von der Wissenschaft dadurch unterscheidet, dass ihr unmittelbarer Gegenstand nicht die Wahrheit, sondern das Vergnügen ist.«
    Darunter zitierte Tormey Poe, der geschrieben hatte, dass »sich ein Gedicht, meiner Meinung nach, von einer wissenschaftlichen Arbeit darin unterscheidet, dass sein unmittelbarer Gegenstand das Vergnügen und nicht die Wahrheit ist.«
    Am meisten musste Zeldin und seinen Anhängern die Passage missfallen haben, die sich auf Poes Meisterwerk Der Rabe bezog. Tormey begann mit Elizabeth

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