Im Schatten der Drachen (MYTHENLAND - Band 1 bis 5 komplett) (German Edition)
wünsche. Weisheit käme meist mit dem Alter, und mit der Ruhe, mit der inneren Stille.
Mit der Verinnerlichung?
Mit der Demut?
Hatte der Sanfte Jack letztendlich Recht mit dem, was er gesagt hatte?
Liebe Güte, nun hinterfragte sie doch und das Erstaunlichste war, je mehr sie dachte, desto weniger Schmerzen empfand sie. Im Gegenteil, sie hatte die Kraft, dem Zweiköpfigen in die Fratze zu lachen, auch wenn ihr die Tränen über die Wangen strömten. Nein, er würde sie zu nichts zwingen, genauso wenig wie dieser seltsame Lord Murgon oder diese Elfentante, über die Jack gesprochen hatte und vor denen er sich fürchtete.
Sie fürchtete sich nicht! Basta!
Sie war Bluma, Tochter von Bob und Bama!
Oh, diese Schmerzen. Ihr Körper verkrampfte sich und sie keuchte.
Aber was war Schmerz? Sie sollte darüber nachdenken, was Schmerzen ausmachte. Ja, sie musste denken. Weiter denken, sich von Jacks Folter ablenken. Sie meinte zu spüren, dass der Schmerz ihre Sinne klärte. Jetzt wurde ihr deutlich, was Freude bedeutete, denn durch dieses Böse erkannte sie das Gute. Kluge Gedanken, ihrer würdig. Aber woher kamen diese Geistesblitze?
Ihre Finger strichen über die Erhebungen eines Holzkästchens.
Ein Holzkästchen?
Nein! Sie riss die Augen auf. Jacks zwei Köpfe ruckten vor und zurück und der rechte Kopf sagte etwas, dass sie nicht vernahm. Sie hatte kein Kästchen in der Hand, aber dann, wenn sie die Augen schloss, war es doch so, war es
real!
Ihr Körper bäumte sich auf, als die Handfläche des Sanften Jack ein Nesselfeuer über ihre Haut strich, dann verebbte der Schmerz.
War das die Folter oder war das eine Vision oder war es beides? Hatte sie so eine Vision, wie Bobba sie gehabt hatte, als er den armen Fischer erschlagen wollte?
Ihre Finger fuhren über Vertiefungen und sie musterte mit großer Wissbegierde die verschlungenen Muster. Es handelte sich um schönes Holz. Um hartes Holz. Um Wareikenholz. Also war es vermutlich in Dandoria hergestellt worden. Nun wusste sie, was die Vision bedeutete. Sie würde diesen Kasten öffnen. Ja, das wollte sie sogar. Das würde ihr ein unaussprechliches Vergnügen bereiten. Endlich ein Rätsel, welches sie forderte. Endlich eine Aufgabe, die ihres Geistes würdig war.
Sie fuhr zurück, als ein dunkelbraunes Gesicht vor ihr aufloderte. Zwei rote Augen blitzten. Das Gesicht war umrandet von glatten, schlohweißen Haaren. Der schmallippige Mund öffnete sich und sagte etwas, dass Bluma nicht verstand. Lachte er? Bedrohte er sie?
»Höre mir zu, kleine Barb!«, schälte sich die Stimme aus einem tiefen Summen. »Ich habe Fragen an dich.«
War das der gefürchtete Lord Murgon?
»Ja, ich bin es!«
Eisige Finger drangen in ihren Kopf und strichen mit rauen Kuppen über ihre Sinneseindrücke. Sie wurde okkupiert und konnte sich nicht dagegen wehren, es war eine mentale Vergewaltigung.
»Ich kenne dich, ich kenne deine Stimme.«
Nun erkannte sie dieselbe Stimme wieder, die ihr von hinten ins Ohr geflüstert hatte, nachdem die Drachen sie in der gigantischen Höhle losgelassen hatten. Es schauderte sie, als sie sich bewusst wurde, dass dieser Lord Murgon schon einmal hinter ihr gehockt hatte, während seine Worte in ihr Ohr geweht waren wie fauliger Dampf.
»Du bist nur eine Vision«, zwang sich Bluma zur Ruhe. Sie musste die Fassung bewahren, durfte dem Zorn nicht die Oberhand lassen. »Und weil dies eine Vision ist, bist du nicht real, Dunkelelf!«
Woher wusste sie, dass es sich bei Murgon um einen Dunkelelfen handelte? Hatte der Sanfte Jack das gesagt? Sie erinnerte sich nicht. Woher überhaupt kannte sie Elfen? Bisher hatte sie von denen nur gehört, gesehen hatte sie keinen. Das alles war in höchstem Maße verwirrend und erheblich schlimmer, als jeder körperliche Schmerz, den der Sanfte Jack ihr antun konnte. Ihr Kopf war ihr Eigentum und das, was darin entstand, war ihr eigenes. Niemand, wirklich niemand hatte das Recht, darauf Zugriff zu nehmen. Der Verlust ihrer Selbstbestimmung ließ sie bis in alle Fasern fiebern.
»Warum ärgerst du dich darüber? Du hast deine Autonomie schon verloren, als die Klauen des Drachen dich griffen.«
»Was geschieht hier mit mir? Kannst du meine Gedanken lesen? Ja, so muss es sein«, flüsterte Bluma.
»Das, kleine Barb, ist ein Teil des Mysteriums, das man Magie nennt. Jede Vision hat einen Sinn.«
»Und worin lag der Sinn der Vision, die mein Bobba hatte, kurz bevor die Drachen unser Dorf angriffen?«
Der Dunkelelf
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