Im Schatten der Gerechtigkeit
daß das Ganze so kurz auf die Tragödie um Julia Penrose und ihre Schwester gefolgt war? Einmal mehr hatte er das schreckliche Gefühl, jemanden zu gern zu haben und ihm bei aller Bewunderung und Dankbarkeit nicht helfen zu können. Die gleiche Situation hatte er schon einmal erlebt: mit seinem Mentor, dem Mann, der ihm vom Tag seiner Ankunft in London an geholfen hatte. Dem Mann, dessen Tragödie ihn dazu veranlaßt hatte, zur Polizei zu gehen. Und jetzt, wie damals, war er machtlos.
»Hallo, William«, begrüßte Callandra ihn höflich, aber ihrem Ton fehlte sowohl die Freude als auch der Schwung. »Sind Sie auf der Suche nach mir?« Er sah die Sorge in ihrem Blick, als fürchtete sie seine Antwort.
Er hätte sie gern getröstet, aber er wußte auch ohne Worte, daß das, was ihr zu schaffen machte, privater Natur war. Sie würde es ihm schon sagen, wenn sie wollte. Das Netteste, was er im Augenblick tun konnte, war, so zu tun, als hätte er nichts bemerkt.
»Eigentlich hatte ich gehofft, Evan allein zu finden«, sagte er kläglich. »Aber ich bin sofort Jeavis über den Weg gelaufen. Ich wollte eben wieder gehen. Ich wünschte, ich wüßte mehr über Prudence Barrymore. So viele Leute haben mir ihre Ansichten über sie erzählt, und doch habe ich das Gefühl, als wäre mir etwas Wesentliches entgangen. Hester erinnert sich an sie, wissen Sie…«
Callandras Miene spannte sich, aber sie sagte nichts. Ein Student kam vorbei; er sah aus, als hätte er Sorgen.
»Und ich war bei Miss Nightingale. Sie hat Prudence in den höchsten Tönen gelobt. Hester übrigens auch.« Callandra lächelte matt. »Haben Sie etwas erfahren?«
»Nichts, was auch nur das geringste Licht darauf wirft, warum man sie ermordet hat. Sieht ganz so aus, als wäre sie eine ausgezeichnete Schwester gewesen. Ihr Vater hat nicht übertrieben. Weder was ihre Fähigkeiten anbelangte, noch ihre Hingabe an die Medizin. Aber ich weiß nicht.« Er verstummte plötzlich. Vielleicht war der Gedanke nicht fair und würde Callandra nur unnötig schmerzen.
»Was wissen Sie nicht?« Ihr Gesicht verdunkelte sich, die Müdigkeit und die Sorgen waren ihr deutlich anzusehen.
Da er keine Ahnung hatte, wovor sie sich fürchtete, konnte er das Thema auch nicht bewußt vermeiden. »Ich frage mich, ob ihre Kenntnisse wohl so groß waren, wie sie gedacht hat. Womöglich hat sie etwas mißverstanden, falsch beurteilt…«
Callandras Blick klärte sich. »Möglich wäre es«, sagte sie langsam. »Obwohl ich nicht verstehe, warum das zu einem Mord führen sollte. Aber gehen Sie der Sache weiter nach, William. Es scheint alles zu sein, was wir im Augenblick haben. Und informieren Sie mich bitte, wenn Sie etwas erfahren.«
Sie nickten kurz dem Kaplan zu, der vor sich hin murmelnd vorbeikam.
»Selbstverständlich«, erklärte Monk sich einverstanden. Und nachdem er ihr noch einen guten Tag gewünscht hatte, ging er durch die Halle hinaus auf die nasse Straße. Es hatte aufgehört zu regnen, und Gehsteig und Straße glänzten im Licht der nun wieder strahlenden Sonne. Die Luft war von einer Unzahl von Gerüchen erfüllt, die meisten von ihnen warm, schwer und nicht sonderlich angenehm: die Roßäpfel, die überquellenden Abflüsse, die den Wolkenbruch nicht verkraftet hatten, der Unrat, der im Strom der Rinnsteine trieb. Pferde klapperten vorbei, mit dampfenden Flanken, unter den Rädern der Kutschen spritzte das Wasser hervor.
Wo konnte er mehr über Prudence’ wirklichen Kenntnisstand erfahren? Im Krankenhaus konnte er keine unvoreingenommene Meinung erwarten, dasselbe galt für ihre Familie und doppelt für Geoffrey Taunton. Von Florence Nightingale war nichts weiter zu erwarten. Es gab keine anerkannte Körperschaft, die die Fähigkeiten von Krankenschwestern beurteilte, weder eine Schule noch ein Kolleg.
Vielleicht trieb er einen Sanitätsoffizier auf, der sie gekannt hatte – was auch immer dessen Meinung zum Thema wert sein mochte. Sie mußten damals unter Zeitdruck gearbeitet haben, bei ständiger Müdigkeit, überwältigt von der Zahl der Kranken und Verletzten. Wieviel mochte er über eine bestimmte Schwester noch wissen oder gar über ihre medizinischen Kenntnisse? War überhaupt Zeit gewesen für mehr als die oberflächlichste Versorgung: amputieren, ausbrennen, vernähen, schienen und beten?
Die Passanten ignorierend, ging er die rasch trocknende Straße entlang, und hielt sich, ohne ein genaues Ziel zu verfolgen, Richtung Süden.
Hatte sie seit der
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