Im Schatten der Gerechtigkeit
zwischen einem engagierten Chirurgen und seiner besten und zuverlässigsten Schwester schicklich und normal gewesen wäre?«
Sie überlegte nur einen Augenblick, bevor sie antwortete. Zum erstenmal blickte sie hinüber zu Sir Herbert, ein kurzer Blick nur, dann wandte sie sich wieder ab. »Nein – er war wie immer«, sagte sie. »Korrekt und engagiert, und außer seinen Patienten und seinen Studenten interessierte ihn kaum etwas.«
Rathbone lächelte sie an. Er wußte, er hatte ein hübsches Lächeln. »Ich kann mir gut vorstellen, daß Sie Verehrer hatten, möglicherweise sogar eine ganze Reihe?«
Sie zuckte kaum merklich mit den Achseln, eine zarte Geste, die Amüsement und Zustimmung ausdrückte.
»Hätte Sir Herbert Sie behandelt, wie er Prudence Barrymore behandelte, hätten Sie daraus geschlossen, er liebe Sie? Oder daß er daran dächte, Frau, Familie, Heim und Ruf aufzugeben, um Sie zu bitten, ihn zu heiraten?«
Ihr Gesicht leuchtete belustigt auf. »Um Himmels willen, nein! Das wäre doch völlig absurd! Selbstverständlich nicht!«
»Wenn sich also Prudence vorstellte, er liebe sie, dann war das doch völlig unrealistisch, oder etwa nicht? War das die Einbildung einer Frau, die zwischen ihren Träumen und der Realität nicht mehr unterscheiden konnte?«
Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht, der jedoch unmöglich zu deuten war. »Ja – ja, genau das war es.«
Er mußte sein Argument klarer herausarbeiten. »Sie sagten doch, sie verfügte über medizinische Fertigkeiten, Madam. Haben Sie Hinweise darauf, daß ihre medizinischen Fähigkeiten groß genug waren, um selbst Amputationen durchzuführen, erfolgreich und ohne Anleitung? War sie denn in Wirklichkeit nicht eher eine Ärztin als eine Krankenschwester?«
Ein unglückliches Raunen ging durch den Saal; es herrschte eine große Verwirrung.
Berenice riß die Brauen hoch. »Um Himmels willen! Natürlich nicht! Sie müssen schon verzeihen, Mr. Rathbone, aber Sie kennen sich in der Welt der Medizin nicht aus, sonst würden Sie eine derartige Frage nicht stellen. Eine Frau als Chirurg, das ist doch absurd!«
»Dann hatte sie also auch in dieser Hinsicht die Fähigkeit verloren, zwischen Tagträumen und der Realität zu unterscheiden?«
»Wenn sie das behauptet hat, dann mit Sicherheit. Sie war Krankenschwester, eine sehr gute zwar, aber doch in keiner Hinsicht ein Arzt! Das arme Ding, der Krieg muß sie um den Verstand gebracht haben. Vielleicht tragen wir die Schuld, weil wir das nie bemerkt haben.« Sie setzte eine angemessen reuige Miene auf.
»Vielleicht hat das Elend, das sie im Krieg ertragen mußte, zu einer Geistesstörung geführt«, pflichtete Rathbone ihr bei. »Und ihr Wunsch zu helfen hat sie dazu gebracht, sich das einzubilden. Wir werden das wohl nie erfahren.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist eine Tragödie, daß diese prächtige, mitfühlende Frau mit dem leidenschaftlichen Bedürfnis zu heilen so strapaziert wurde, daß sie ihr Leben kaum noch ertragen konnte; und vor allem, daß dieses Leben ein solches Ende nehmen mußte.« Er sagte das für die Geschworenen; nicht daß es irgendeinen Einfluß auf die Beweislage gehabt hätte, aber es war wichtig, sich ihre Sympathien zu erhalten. Er hatte bereits Prudence’ Ruf als Heldin zerstört, da durfte er ihr nicht auch noch ihre Rolle als ehrenwertes Opfer nehmen.
Lovat-Smiths letzter Zeuge war Monk.
Mit steinerner Miene stieg er die Treppe zum Zeugenstand hinauf und stellte sich kühl dem Gericht. Von den Presseleuten, Gerichtssekretären und Müßiggängern, die im Saal aus und ein gingen, hatte er bereits das eine oder andere von dem mitbekommen, was Rathbone aus Berenice Ross Gilbert herausgeholt hatte. Er war wütend, noch bevor man ihm die erste Frage stellte.
»Mr. Monk«, begann Lovat-Smith vorsichtig. Er wußte, er hatte einen parteiischen Zeugen vor sich, wußte jedoch ebensogut, daß seine Aussage unanfechtbar war. »Sie sind nicht mehr bei der Polizei, sondern führen private Ermittlungen durch, ist das korrekt?«
»Jawohl.«
»Wurden Sie engagiert, um im Todesfall Prudence Barrymore zu ermitteln?«
»Das wurde ich.« Monk hatte nicht die Absicht, freiwillig mit etwas herauszurücken. Das Publikum war weit davon entfernt, das Interesse zu verlieren; die Leute spürten die Feindseligkeiten und saßen aufrechter da als gewöhnlich, damit ihnen auch nicht ein Wort entging.
»Von wem? Miss Barrymores Familie?«
»Von Lady Callandra Daviot.«
Sir Herbert, auf
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