Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
deplaziert, dann ist die Moral oft sicherer, als würde sie erwidert.« Sie zögerte und tat, als sei ihr das unangenehm. »Selbstverständlich hatte ich damals nicht die leiseste Ahnung, daß diese Geschichte so enden könnte.«
    Nicht ein einziges Mal hatte sie Sir Herbert angesehen, der ihr gegenüber auf der Anklagebank saß, und das, obwohl er sie nicht einen Moment aus den Augen ließ.
    »Sie sagen, Prudence’ Liebe sei deplaziert gewesen.« Lovat-Smith war noch nicht fertig. »Wollen Sie damit sagen, Sir Herbert hätte ihre Gefühle nicht erwidert?«
    Berenice zögerte, aber sie schien eher nach den richtigen Worten zu suchen, als sich ihrer Meinung nicht sicher zu sein.
    »Wissen Sie, mein Geschick im Lesen der Gefühle von Männern und Frauen läßt etwas zu wünschen übrig…«
    Ein Murmeln ging durch den Saal, ob aus Zweifel an ihren Worten oder weil man sie nur zu gut verstand, war nicht zu sagen. Einer der Geschworenen nickte weise.
    Rathbone hatte ganz entschieden den Eindruck, daß sie die Dramatik des Augenblicks nicht weniger genoß als ihre Macht über das Publikum.
    Lovat-Smith unterbrach sie nicht.
    »Er verlangte sie, wann immer eine geschulte Schwester vonnöten war«, sagte sie langsam in die gespannte Stille. »Er hat stundenlang in engem Kontakt mit ihr gearbeitet, wobei sie nicht selten allein waren.« Sie sagte das, den Blick fest auf Lovat-Smith gerichtet, ohne ein einziges Mal zur Anklagebank hinüberzusehen.
    »Vielleicht war er sich ihrer Gefühle ihm gegenüber gar nicht bewußt?« schlug Lovat-Smith ohne einen Funken Überzeugung vor. »Ist er Ihrer Meinung nach ein törichter Mann?«
    »Selbstverständlich nicht! Aber…«
    »Selbstverständlich nicht!« schnitt er ihr das Wort ab, noch bevor sie eine Erklärung hinzufügen konnte. »Und deshalb hielten Sie es auch nicht für nötig, ihn zu warnen?«
    »Daran habe ich nie gedacht«, gestand sie irritiert. »Es steht mir nicht zu, den Ärzten Hinweise in bezug auf ihren Lebenswandel zu geben. Außerdem konnte ich ihm meiner Ansicht nach nichts sagen, was er nicht längst selbst gewußt hätte; ich dachte, er würde schon entsprechend handeln. Wenn ich jetzt so zurückblicke, dann sehe ich freilich…«
    »Ich danke Ihnen«, unterbrach er sie. »Vielen Dank, Lady Ross Gilbert. Ich habe keine weiteren Fragen an Sie. Aber mein sehr verehrter Kollege… womöglich.« Letzteres eine zarte Anspielung darauf, daß Rathbones Sache verloren sei und dieser eventuell daran dachte, sich ins Unvermeidliche zu schicken.
    Und tatsächlich war Rathbone äußerst unglücklich. Sie hatte eine Menge von dem zerschlagen, was er mit Nanette Cuthbertson und Geoffrey Taunton aufgebaut hatte. Er hatte bestenfalls für einen berechtigten Zweifel gesorgt. Und jetzt schien sich selbst dieser wieder zu zerstreuen. Der Fall würde kaum eine Zierde seiner Laufbahn werden, und es sah zunehmend danach aus, als könne er noch nicht einmal Sir Herberts Leben retten, geschweige denn seinen Ruf.
    Er trat Lady Ross Gilbert mit einem lässigen Selbstvertrauen gegenüber, das er ganz und gar nicht verspürte. Er nahm bewußt eine nachlässige Haltung an. Die Geschworenen mußten glauben, er habe noch eine gewaltige Enthüllung in der Hinterhand, eine Spitzfindigkeit, die das Blatt mit einem Schlag wenden würde.
    »Lady Ross Gilbert«, begann er mit einem charmanten Lächeln. »Prudence Barrymore war eine ausgezeichnete Krankenschwester, nicht wahr? Deren Geschick und Fertigkeiten weit über den Durchschnitt hinausgingen?«
    »Ganz gewiß«, pflichtete sie ihm bei. »Sie verfügte über ein beträchtliches medizinisches Wissen, wie ich glaube.«
    »Und sie war gewissenhaft, was ihre Pflichten anbelangte?«
    »Das werden Sie doch sicher wissen?«
    »Das tue ich.« Rathbone nickte. »Es wurde hier bereits von mehreren Personen zu Protokoll gegeben. Warum überrascht es Sie dann, daß Sir Herbert bei einer ganzen Reihe von Operationen mit ihr zusammenarbeiten wollte? War das denn nicht im Interesse seiner Patienten gewesen?«
    »Ja – selbstverständlich war es das!«
    »Sie haben ausgesagt, Sie hätten an Prudence die offensichtlichen Zeichen einer verliebten Frau beobachtet. Haben Sie solche Zeichen auch an Sir Herbert beobachtet, wenn Prudence in der Nähe war oder wenn er ihre Nähe spürte?«
    »Nein, das habe ich nicht«, antwortete sie, ohne zu zögern.
    »Haben Sie irgendeine Veränderung in seinem Verhalten ihr gegenüber bemerkt, irgendein Abweichen von dem, was

Weitere Kostenlose Bücher