Im Schatten der Gerechtigkeit
gewisse Verwirrtheit abzulesen. Nicht daß er verängstigt ausgesehen hätte – eher, als befände er sich in einem Alptraum, der ihm ein Rätsel war. Der Blick, der auf Rathbone ruhte, hatte fast etwas Verzweifeltes.
Lovat-Smith zögerte, sah Monk einige Augenblicke lang an und entschied sich dann, ihn nichts weiter zu fragen. Wiederum war er sich der Antwort nicht sicher.
»Ich danke Ihnen«, sagte er mit einem Blick auf Rathbone. Rathbone zermarterte sich das Hirn auf der Suche nach etwas, womit sich das eben Gehörte abschwächen ließe. Er brauchte Sir Herberts weißes Gesicht erst gar nicht zu sehen, auf dem die Verwirrung, die er so lange zur Schau getragen hatte, nun von Angst abgelöst worden war. Ob er die Briefe verstand oder nicht, er war nicht so naiv, als daß ihm ihre Wirkung auf die Geschworenen entgangen wäre.
Rathbone zwang sich, die Geschworenen nicht anzusehen, aber er wußte, als sie sich seitwärts, Richtung Anklagebank, wandten, daß sie bereits an einen Schuldspruch dachten.
Was konnte er Monk fragen? Was konnte er sagen, um dem Gehörten die Wirkung zu nehmen? Es wollte ihm einfach nichts einfallen.
»Mr. Rathbone?« Richter Hardie sah ihn mit geschürzten Lippen an.
»Danke, Euer Ehren, ich habe keine Fragen an den Zeugen.«
»Der Beweisvortrag der Anklagevertretung ist damit abgeschlossen, Euer Ehren«, sagte Lovat-Smith mit dem Anflug eines selbstgefälligen Lächelns.
»In diesem Falle vertagt sich das Gericht auf morgen. Die Verteidigung mag dann mit ihrem Beweisvortrag beginnen.«
Callandra war nach ihrer Aussage nicht im Saal geblieben. Ein Teil von ihr hätte durchaus gewollt. Unvernünftig oder nicht, sie hoffte verzweifelt auf Sir Herberts Schuld und daß man sie ihm über jeden Zweifel hinaus nachweisen würde. Die entsetzliche Angst, Kristian könnte der Mörder sein, quälte sie wie ein physischer Schmerz. Tagsüber suchte sie sich jede erdenkliche Pflicht, um ihre Stunden zu füllen. Sie nahm ihrem Verstand jede Gelegenheit, auf ihre Ängste zurückzukommen und auf der sinnlosen Suche nach der gewünschten Lösung immer und immer wieder dieselben Argumente durchzugehen.
Abends dann fiel sie, erschöpft, wie sie glaubte, ins Bett, nur um nach einer Stunde voller Angst wieder aufzuwachen. In den endlosen Morgenstunden warf sie sich von einer Seite auf die andere und sehnte sich nach Schlaf; sie hatte Angst zu träumen und noch mehr Angst wach zu sein.
Sie hätte Kristian zu gern gesehen, aber sie wußte nicht, was sie ihm hätte sagen sollen. Sooft sie mit ihm im Krankenhaus zusammengewesen war und die Krisen – und den Tod – anderer mit ihm geteilt hatte, jetzt wurde ihr schmerzlich bewußt, wie wenig sie über ihn wußte. Selbstverständlich war ihr bekannt, daß er verheiratet und seine Frau eine kühle, distanzierte Person war, mit der sich nur selten Lachen und Zärtlichkeit teilen ließ, von seiner Arbeit, in die soviel Leidenschaft floß, ganz zu schweigen; nicht zu vergessen etwas so Kostbares wie Humor und Verständnis, kleine persönliche Vorlieben und Abneigungen wie seine Liebe zu Blumen, Gesang und dem Spiel des Lichts auf taufrischem Gras.
Aber wieviel mochte ihr unbekannt sein? Zuweilen, während der langen Stunden, in denen sie beisammengesessen und sich weit länger unterhalten hatten als nötig, hatte er ihr von seiner Jugend erzählt, von seinen Anstrengungen im heimatlichen Böhmen, seiner Freude, wenn seine Studien ihm die wunderbare Funktionsweise der menschlichen Physiologie enthüllten. Er hatte von den Leuten erzählt, die er gekannt und mit denen er so viele Erfahrungen geteilt hatte. Sie hatten zusammen gelacht und waren im Gedanken an ihre Verluste in eine süße Melancholie versunken; die Gewißheit, daß der andere verstand, hatte sie erträglich gemacht.
Mit der Zeit hatte sie ihm von ihrem Gatten erzählt, von seinem glühenden Lebenseifer, seinem Temperament, seinen unvernünftigen An und plötzlichen Einsichten, seinem lauten Witz und seiner ungestümen Lebensfreude.
Aber was war mit Kristians Gegenwart? Alles, was er mit ihr geteilt hatte, war bereits fünfzehn, zwanzig Jahre her, als wären die Jahre zwischen damals und heute verloren oder tabu. Wann war ihm der Idealismus seiner Jugend abhanden gekommen? Wann hatte er zum erstenmal das Beste in sich verraten und alles andere befleckt, indem er eine Abtreibung vorgenommen hatte? Brauchte er das zusätzliche Geld wirklich so dringend?
Nein! Das war nicht fair. Es war immer
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