Im Schatten der Gerechtigkeit
– ja, ich nehme an, das war sie wohl. Ich fürchte, ich bemerke derlei Dinge weniger als andere Männer. Unter solchen Umständen interessiere ich mich mehr für die Fähigkeiten einer Frau.« Fast entschuldigend blickte er zu den Geschworenen hinüber. »Ich erinnere mich jedoch, daß sie sehr schöne Hände hatte.« Er sah dabei keineswegs auf seine eigenen schönen Hände, die auf der Brüstung des Zeugenstandes ruhten.
»War sie sehr geschickt?« wiederholte Rathbone. »Wie ich bereits sagte.«
»Geschickt genug, um selbst eine Operation durchzuführen? « Sir Herbert sah ihn verblüfft an, öffnete den Mund, schloß ihn dann jedoch wieder.
»Sir Herbert?« forderte Rathbone ihn auf.
»Sie war eine ausgezeichnete Schwester«, sagte er ernst.
»Aber keine Ärztin! Sie müssen verstehen, daß da ein enormer Unterschied besteht! Es ist eine nicht zu überbrückende Kluft.« Er schüttelte den Kopf. »Sie hatte keine Ausbildung. Sie wußte nur, was ihre Erfahrungen und Beobachtungen bei ihrer Arbeit auf dem Schlachtfeld und im Lazarett von Skutari sie gelehrt hatten.« Er beugte sich noch ein klein wenig weiter vor, sein Gesicht konzentriert in Falten gelegt. »Sie müssen den Unterschied sehen zwischen einem zufällig angeeigneten, ungeordneten Wissen ohne Kenntnisse von Ursache und Wirkung, Alternativen und möglichen Komplikationen, ohne Kenntnis der Anatomie oder Pharmakologie oder der Anmerkungen anderer Ärzte – und den Jahren des Studiums und der Praxis mit all dem begleitenden Wissen, das einem eine solche Ausbildung beschert.« Wieder schüttelte er den Kopf, wenn auch heftiger. »Nein, Mr. Rathbone, sie war eine ausgezeichnete Schwester, ich habe nie eine bessere gekannt – aber sie war gewiß kein Arzt. Und um die Wahrheit zu sagen«, er sah Rathbone fest in die Augen, sein Blick völlig offen, »ich glaube, daß die Geschichten, die wir hier gehört haben, nach denen sie auf dem Schlachtfeld Operationen durchgeführt hat, nicht von ihr stammen, nicht in dieser Form. Sie war weder eine arrogante Frau noch eine Lügnerin. Ich glaube eher, daß man sie mißverstanden, vielleicht auch falsch zitiert hat.«
Aus dem Saal kam ein beifälliges Murmeln, einige Leute warfen ihren Nachbarn nickend Blicke zu, und zwei der Geschworenen lächelten gar.
In emotionaler Hinsicht war es ein brillanter Zug gewesen, aus taktischer Sicht jedoch bot er eine schlechte Basis für Rathbones nächste Frage. Er überlegte schon, ob er sie hintanstellen sollte, kam aber zu dem Schluß, daß das so ausgesehen hätte, als wollte er ihr ausweichen.
»Sir Herbert«, er trat einige Schritte auf den Zeugenstand zu und blickte hinauf. »Die Beweismittel, die die Anklagevertretung gegen Sie vorgebracht hat, bestehen aus einer Reihe von Briefen, die Prudence Barrymore an ihre Schwester geschrieben hat, Briefen, in denen sie nicht nur von ihren tiefen Gefühlen für Sie spricht, sondern auch davon, daß Sie diese erwiderten und sie in Kürze zur glücklichsten aller Frauen machen würden. Ist das eine realistische, praktische und ehrliche Ansicht? Es sind dies ihre eigenen, unverfälschten Worte.«
Sir Herbert schüttelte den Kopf. »Ich kann mir das einfach nicht erklären«, sagte er wehmütig. »Ich schwöre bei Gott, ich habe ihr nie auch nur den leisesten Anlaß zu dem Glauben gegeben, meine Hochachtung habe etwas mit persönlichen Gefühlen zu tun. Und ich habe Stunden, ja Tage überlegt, was ich gesagt oder getan haben könnte, um ihr einen solchen Eindruck zu vermitteln. Mir will absolut nichts einfallen!«
Abermals schüttelte er den Kopf und biß sich dann auf die Lippe. »Vielleicht bin ich zu lässig im Umgang, womöglich gestatte ich mir gelegentlich eine Formlosigkeit gegenüber meinen Mitarbeitern, aber ich sehe wirklich nicht, wie irgend jemand meine Bemerkungen als Erklärungen einer persönlichen Zuneigung hätte mißdeuten sollen. Ich habe mit ihr als einer Mitarbeiterin gesprochen, in die ich größtes Vertrauen setzte.« Er zögerte. Einige der Geschworenen nickten ebenso mitfühlend wie verständnisvoll. Ihren Gesichtern nach zu urteilen schienen sie ähnliche Erfahrungen gemacht zu haben. Es hörte sich alles völlig vernünftig an.
»Vielleicht war ich nachlässig«, sagte er ernst. »Ich bin kein romantischer Mann. Ich bin seit über zwanzig Jahren glücklich verheiratet – mit der einzigen Frau, die ich je unter diesem Gesichtspunkt betrachtet habe.« Er lächelte verlegen.
»Sie würde Ihnen sagen,
Weitere Kostenlose Bücher