Im Schatten der Gerechtigkeit
auf Lovat-Smith, »ist, daß Sir Herbert ein gewichtiges Motiv hatte, was Sie mit Prudence Barrymores Briefen an ihre Schwester, Faith Barber, beweisen wollen.«
Sein Lächeln wurde etwas breiter, als er sich an die Geschworenen direkt wandte. »Ich jedoch werde aufzeigen, daß sich auch eine ganz andere Interpretation dieser Briefe anbietet, eine, die Sir Herbert nicht schuldiger erscheinen läßt als jeden anderen Mann in seiner Position.«
Wieder kam Bewegung in die Publikumsreihen. Eine dicke Frau in der Galerie beugte sich nach vorne, um Sir Herbert auf der Anklagebank anzustarren.
Noch bevor Hardie unruhig werden konnte, kam Rathbone zur Sache. »Als meinen ersten Zeugen rufe ich Sir Herbert Stanhope selbst.«
Sir Herbert brauchte einige Minuten, um von der Anklagebank zu verschwinden, die Treppe hinunterzusteigen und im Saal wieder aufzutauchen. Seine aus zwei Gefängniswärtern bestehende Eskorte zurücklassend, durchquerte er den Saal und stieg, hoch erhobenen Hauptes, eine tadellos gekleidete, würdige Gestalt, hinauf in den Zeugenstand.
Kaum stand Sir Herbert im Zeugenstand, ging eine Welle der Bewegung durch den Saal; jedermann versuchte ihn zu sehen. Er stand da, die Schultern zurückgenommen, den Kopf hoch, aber Rathbone, der ihn beobachtete, spürte, daß dahinter Zuversicht steckte und keineswegs Arroganz. Er warf einen Blick auf die Gesichter der Geschworenen und sah deren Interesse und widerwilligen Respekt.
Der Justizsekretär vereidigte ihn, dann trat Rathbone in die Saalmitte und begann.
»Sir Herbert, Sie sind seit etwa sieben Jahren Chefarzt im Königlichen Armenspital. Während dieser Zeit müssen Ihnen doch viele, wahrscheinlich Hunderte von Schwestern assistiert haben?«
Sir Herberts dünne Brauen hoben sich überrascht. »Ich habe nie daran gedacht, sie zu zählen«, sagte er offen. »Aber ich nehme an, es trifft zu, ja.«
»Von unterschiedlichem Können und Engagement?«
»Auch das ist richtig«, Sir Herberts Mundwinkel hoben sich kaum merklich, eine Geste bitterer Selbstironie.
»Wann sind Sie Prudence Barrymore zum erstenmal begegnet?«
Sir Herbert überlegte einen Augenblick konzentriert. Im Saal war es absolut still; alle Augen ruhten auf seinem Gesicht. In der totalen Aufmerksamkeit der Geschworenen lag keinerlei Feindseligkeit, nur gespannte Erwartung.
»Das muß im Juli 1856 gewesen sein«, antwortete er.
»Genauer, so fürchte ich, kann ich es nicht sagen.« Er atmete ein, als wolle er noch etwas hinzufügen, überlegte es sich dann jedoch anders.
Rathbone nahm es mit Befriedigung zur Kenntnis. Er würde seinen Anweisungen folgen. Gott sei’s gedankt! »Erinnern Sie sich an die Ankunft aller neuen Schwestern, Sir Herbert?«
»Nein, natürlich nicht. Es sind ja so viele. Äh…« Wieder verstummte er. Rathbone empfand eine bittere Belustigung dabei. So präzise wie Sir Herbert ihm gehorchte, verriet er die tiefe Angst, die er verbarg. Rathbones Urteil nach war er nicht der Mann, der sonst allzu leicht Befehle entgegennahm.
»Und warum ist Ihnen Miss Barryrnore aufgefallen?« fragte er.
»Weil sie auf der Krim gedient hatte«, antwortete Sir Herbert.
»Eine Frau von Stand, die sich unter beträchtlichen persönlichen Opfern der Krankenpflege widmete, ja sogar das Leben riskierte. Sie kam nicht, weil sie es nötig hatte, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sondern weil sie Schwester sein wollte.«
Rathbone war sich des beifälligen Gemurmels unter dem Publikum ebenso bewußt wie des anerkennenden Ausdrucks auf den Gesichtern der Geschworenen.
»Und war sie so qualifiziert und engagiert, wie Sie gehofft hatten?«
»Sie übertraf meine Erwartungen«, antwortete Sir Herbert, ohne die Augen von Rathbones Gesicht zu nehmen. Er stand etwas vorgebeugt, die Hände auf die Brüstung gelegt, die Arme gestreckt. Es war eine Haltung, die Konzentration, ja sogar eine gewisse Demut verriet. Hätte Rathbone sie ihm beigebracht, er hätte es nicht besser machen können. »Sie war unermüdlich in ihren Pflichten«, fügte er hinzu. »Sie kam nie zu spät und fehlte nie ohne Grund. Ihr Gedächtnis war phänomenal, und sie lernte bemerkenswert schnell. Und nicht ein einziges Mal hat sie jemandem Grund gegeben, ihre Moral in Frage zu stellen. Sie war eine durch und durch ausgezeichnete Frau.«
»Und hübsch anzusehen?« fragte Rathbone mit einem kleinen Lächeln.
Sir Herberts Augen wurden vor Überraschung ganz groß. Er hatte die Frage offensichtlich nicht erwartet. »Ja
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