Im Schatten der Gerechtigkeit
daß ich in dieser Hinsicht kaum über Phantasie verfüge«, fuhr Sir Herbert fort. »Wie Sie sehen, bin ich weder schön noch eine forsche Erscheinung. Ich war nie Gegenstand romantischer Aufmerksamkeit für junge Damen. Es gibt da weit…«, er zögerte, suchte nach dem richtigen Wort, »… weit charmantere und passendere Männer für eine solche Rolle. Wir haben eine Reihe von Medizinstudenten, begabten, gutaussehenden jungen Männern mit guten Zukunftsaussichten. Und selbstverständlich haben wir auch Ärzte mit größeren Gaben als den meinen, was Charme und eine gefällige Art anbelangt. Offen gesagt ist es mir nie in den Sinn gekommen, daß mich jemand in diesem Licht sehen könnte.«
Rathbone nahm eine mitfühlende Haltung ein, obwohl Sir Herbert seine Sache so gut machte, daß er kaum der Hilfe bedurfte.
»Hat Miss Barrymore nie etwas gesagt, was Ihnen über das normale Maß an Bewunderung hinauszugehen schien, etwas, was eher persönlicher als beruflicher Natur gewesen wäre?« fragte er. »Ich kann mir vorstellen, daß Sie es gewohnt sind, von Ihren Mitarbeitern respektiert zu werden, ganz zu schweigen von der Dankbarkeit Ihrer Patienten, aber bitte, denken Sie sorgfältig nach, mit aller nachträglichen Einsicht, die Sie nun haben.«
Sir Herbert zuckte die Achseln und lächelte in aufrichtiger Reue. »Glauben Sie mir, Mr. Rathbone, ich habe es versucht, aber wann immer ich mit Schwester Barrymore zusammen war – und dies war sehr oft –, nahm mich der medizinische Fall ganz und gar in Anspruch. Ich habe sie nie in einem anderen Zusammenhang gesehen!« In seinem Bemühen, sich zu konzentrieren, zog er die Brauen zusammen.
»Ich habe mit Respekt an sie gedacht, mit Vertrauen, mit der größten Zuversicht, was ihr Engagement und ihr Können anbelangt, aber nicht an sie als Person.« Er senkte den Blick.
»Wie es scheint, war das ein schwerer Irrtum, den ich zutiefst bedaure. Ich habe selbst Töchter, wie Sie zweifelsohne wissen, aber mein Beruf beschäftigt mich so sehr, daß ich deren Erziehung ihrer Mutter überlasse. Ich kenne mich mit jungen Frauen bei weitem nicht so gut aus, wie das vielleicht möglich wäre – wie etwa bei Männern, deren Beruf ihnen mehr Zeit für Heim und Familie läßt als der meine.«
Ein mitfühlendes Raunen und Rascheln ging durch den Saal.
»Es ist ein Preis, den ich nur ungern bezahle.« Er biß sich auf die Lippe. »Und womöglich war ja auch das für Schwester Barrymores tragisches Mißverständnis verantwortlich. Ich hatte wirklich ausschließlich unsere Patienten im Sinn. Aber soviel weiß ich«, seine Stimme senkte sich und wurde hart und eindringlich, »ich habe niemals Schwester Barrymore gegenüber irgendwelche romantischen Gefühle gehegt. Ich habe nichts gesagt oder getan, was ungebührlich gewesen wäre oder von einer unvoreingenommenen Person als Annäherungsversuch oder Ausdruck romantischer Absichten hätte gedeutet werden können. Dessen bin ich mir nicht weniger sicher als ich hier vor Ihnen in diesem Gerichtssaal stehe.«
Er war großartig. Rathbone selbst hätte ihm nichts Besseres in den Mund legen können. »Ich danke Ihnen, Sir Herbert. Sie haben die Situation auf eine Weise erklärt, daß wir sie, wie ich glaube, alle verstehen können.« Mit einer Geste des Bedauerns sah er zu den Geschworenen hinüber. »Ich habe selbst bereits peinliche Begegnungen hinter mir, und wahrscheinlich geht es auch den Herren Geschworenen so. Die Träume und Prioritäten im Leben junger Frauen unterscheiden sich zuweilen von den unseren, und vielleicht sind wir auf gefährliche, ja tragische Weise unempfänglich für sie.« Er wandte sich wieder dem Zeugenstand zu. »Bitte, bleiben Sie noch, wo Sie sind. Ich habe keinen Zweifel daran, daß mein verehrter Herr Kollege noch einige Fragen an Sie hat.«
Als er an seinen Tisch zurückkehrte und seinen Platz wieder einnahm, bedachte er Lovat-Smith mit einem Lächeln.
Lovat-Smith stand auf und strich seine Robe glatt, bevor er den Saal durchquerte. Er blickte weder rechts noch links, sondern direkt hinauf zu Sir Herbert.
»Sir Herbert, Sie sind also, nach eigenen Angaben, kein Beau, ist das korrekt?« Er war höflich, ja elegant. In seinem Ton lag die Ehrerbietung einem Mann gegenüber, dem man Hochachtung entgegenbringt.
»Nein«, sagte Sir Herbert vorsichtig, »das bin ich nicht.« Rathbone schloß die Augen. Gebe Gott, daß Sir Herbert jetzt seinen Rat beherzigte. »Sagen Sie auf keinen Fall mehr!« sagte Rathbone
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