Im Schatten der Gerechtigkeit
gewesen und einer seiner Patienten gestorben war, an dessen Genesung keiner gezweifelt hatte. Aber all das waren bloße Verdächtigungen, finstere Gedanken, nichts weiter. Es gab keinerlei Beweise. Wenn er das Thema jetzt anschnitt, konnte es ihm gelingen, den Verdacht der Geschworenen auf Beck zu lenken. Auf der anderen Seite konnte er sie damit auch vor den Kopf stoßen und seine eigene Verzweiflung verraten. Es würde häßlich aussehen. Im Augenblick hatte er ihre Sympathien, und das könnte für einen Freispruch durchaus genügen. Eine Entscheidung, von der möglicherweise Sir Herberts Leben abhing.
Sollte er Beck beschuldigen? Er betrachtete sein interessantes, wißbegieriges Gesicht, seinen sinnlichen Mund, die schönen Augen. Letztere waren zu intelligent, zu humorvoll; es war ein Risiko, das er nicht eingehen wollte. So wie die Dinge standen, war er am Gewinnen. Er wußte es – und Lovat-Smith wußte es.
»Ich danke Ihnen, Dr. Beck«, sagte er schließlich. »Das wäre alles.«
Sofort war Lovat-Smith auf den Beinen. »Dr. Beck, Sie sind doch ein vielbeschäftigter Arzt, nicht wahr?«
»Ja«, pflichtete ihm Kristian mit gerunzelten Brauen bei.
»Verbringen Sie viel Zeit damit, über mögliche Romanzen im Krankenhaus nachzudenken und ob die eine oder andere Person sich über derlei Gefühle im klaren sein mag oder nicht?«
»Nein«, gestand Kristian.
»Verwenden Sie überhaupt Zeit auf solche Gedanken?« drängte ihn Lovat-Smith.
Aber so leicht war Kristian nicht zu überlisten. »Gedanken sind da nicht nötig, Mr. Lovat-Smith. Das ist eine Frage von Beobachtungen, die sich nicht vermeiden lassen. Ich bin sicher, Sie nehmen Ihre Kollegen wahr, auch wenn Sie ganz auf Ihren Beruf konzentriert sind.«
Das konnte auch Lovat-Smith nicht bestreiten. »Aber keiner von denen ist des Mordes angeklagt, Dr. Beck«, sagte er mit einer resignierenden Geste, in der fast eine Art wehmütiger Belustigung anklang. »Ich habe keine weiteren Fragen an Sie, ich danke Ihnen.«
Hardie warf einen Blick auf Rathbone. Rathbone schüttelte den Kopf.
Kristian Beck verließ den Zeugenstand und Rathbone konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob er es gerade noch vermieden hatte, sich zum Narren zu machen, oder ob er eine unwiederbringliche Gelegenheit verschenkt hatte.
Am folgenden Tag rief Rathbone Lady Stanhope auf. Nicht daß er erwartet hätte, ihre Aussage könnte noch Wesentliches erbringen. Mit Sicherheit wußte sie nichts über den Fall. Aber die emotionale Wirkung ihres Auftritts war nicht zu unterschätzen.
Sie betrat den Zeugenstand mit etwas Unterstützung seitens des Justizsekretärs und sah Rathbone nervös an. Sie war sehr blaß und schien Mühe zu haben, Haltung zu bewahren. Sie blickte einen Augenblick ganz bewußt hinüber zu ihrem Mann auf der Anklagebank, sah ihm in die Augen und lächelte.
Sir Herbert blinzelte und erwiderte ihr Lächeln, bevor er sich abwandte. Über seine Gefühle konnte man nur Vermutungen anstellen.
Rathbone wartete, um den Geschworenen Zeit zu geben, sie zu mustern, dann trat er vor und sprach sie höflich und ausgesprochen sanft an. »Lady Stanhope, ich muß mich entschuldigen, Sie hier als Zeugin aufzurufen und das in einer Zeit, die für Sie schon schwierig genug sein muß, aber ich bin sicher, Sie möchten alles in Ihrer Macht Stehende tun, um die Unschuld Ihres Gatten zu beweisen.«
Sie schluckte und starrte ihn an. »Selbstverständlich. Alles…« Sie verstummte, offensichtlich in Erinnerung an die Anweisung, nur auf seine Fragen zu antworten.
Er lächelte sie an. »Ich danke Ihnen. Ich habe nicht viele Fragen an Sie, nur einige zu Sir Herbert, und was Sie über sein Leben und seinen Charakter wissen. Lady Stanhope, wie lange sind Sie mit Sir Herbert verheiratet?«
»Dreiundzwanzig Jahre«, antwortete sie.
»Und Sie haben Kinder?«
»Ja, wir haben sieben: drei Töchter und vier Söhne.« Sie begann etwas Selbstvertrauen zu gewinnen. Sie bewegte sich auf vertrautem Boden.
»Denken Sie daran, daß Sie unter Eid stehen, Lady Stanhope«, mahnte er sie sanft, aber nicht etwa ihretwegen, sondern um sich der Aufmerksamkeit der Geschworenen zu vergewissern. »Sie müssen ehrlich antworten, selbst wenn das schmerzhaft für Sie sein sollte. Hatten Sie während dieser Zeit jemals Grund, an Sir Herberts absoluter Treue Ihnen gegenüber zu zweifeln?«
»Nein, ganz gewiß nicht!« Sie lief etwas rot an und senkte den Blick auf ihre Hände. »Nein, er hat mir in dieser Hinsicht nie
Weitere Kostenlose Bücher