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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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dieser über jeden Zweifel erhaben sei.
    Lovat-Smith machte sich erst gar nicht die Mühe, sie ins Kreuzverhör zu nehmen. Er demonstrierte seine offensichtliche Langeweile, indem er gegen die Decke starrte, während Rathbone sprach. Und als er dann an der Reihe war, wartete er erst einige Sekunden, bevor er begann. Er sagte nicht direkt, ihre Loyalität sei vorauszusehen gewesen und letztlich bedeutungslos, ließ es aber durchblicken. Es war ein Kunstgriff, um die Geschworenen zu langweilen: Sie sollten den Eindruck vergessen, den Sir Herbert auf sie gemacht hatte, und Rathbone wußte das. Er sah an ihren Mienen, daß Sir Herbert nach wie vor ihre Sympathie hatte, und wenn er weiter auf diesem Punkt herumritt, riskierte er, ihre Intelligenz zu beleidigen und ihre Aufmerksamkeit zu verlieren. Er dankte dem Arzt, der im Augenblick aussagte, entließ ihn und ließ den anderen ausrichten, daß er außer Kristian Beck keinen der Kollegen mehr benötige.
    Kristian Beck betrat den Zeugenstand ohne die leiseste Vorstellung, was ihn erwartete. Rathbone hatte ihm nur gesagt, daß er ihn als Leumundszeugen brauche.
    »Dr. Beck, Sie sind Arzt und Chirurg, nicht wahr?«
    »Das bin ich.«
    »Und Sie haben bereits an mehreren Orten praktiziert, Ihre Heimat Böhmen mit eingeschlossen?« Er wollte ihn in den Augen der Geschworenen als Fremdkörper darstellen, als jemanden, der sich grundlegend von Sir Herbert unterschied. Es war eine Aufgabe, die ihm nicht gefiel, aber der Schatten der Schlinge läßt den Verstand seltsame Wege gehen. Kristian bejahte auch diese Frage.
    »Aber Sie arbeiten bereits seit zehn oder elf Jahren mit Sir Herbert, ist das korrekt?«
    »In etwa«, stimmte Kristian zu. Sein Akzent war kaum zu hören und beschränkte sich im Grunde auf eine wohlklingende Klarheit gewisser Vokale. »Selbstverständlich arbeiten wir nur selten zusammen. Schließlich sind wir beide auf demselben Gebiet tätig. Ich kenne jedoch seinen Ruf, sowohl seinen persönlichen als auch den als Arzt, und ich sehe ihn häufig.«
    Sein Gesichtsausdruck war offen und ehrlich, seine Absicht zu helfen, deutlich zu sehen.
    »Ich verstehe«, räumte Rathbone ein. »Ich wollte damit auch nicht sagen, daß Sie Seite an Seite arbeiten. Wie ist Sir Herberts persönlicher Ruf, Dr. Beck?«
    Ein Ausdruck der Belustigung huschte über Becks Gesicht, dem jedoch jede Bosheit fehlte. »Er gilt als aufgeblasen, etwas arrogant, zu Recht stolz auf seine Fähigkeiten und Leistungen, als exzellenter Lehrer und Mann von absoluter moralischer Integrität.« Er bedachte Rathbone mit einem Lächeln.
    »Natürlich machen die Jüngeren ihre Witze über ihn, man zieht ihn durch den Kakao – wie man, glaube ich, sagt –, das geht uns allen so. Aber ich habe nie einen Hinweis darauf gehört, sein Verhalten Frauen gegenüber sei nicht absolut korrekt.«
    »Es ist hier angeklungen, er sei etwas naiv gewesen, was Frauen anbelangt.« Rathbone hob die Stimme zu einer Frage.
    »Vor allem jungen Frauen gegenüber. Ist das auch Ihre Beobachtung, Dr. Beck?«
    »Ich hätte eher das Wort ›uninteressiert‹ gebraucht«, antwortete Kristian. »Aber ich denke, ›naiv‹ tut es auch. Ich habe mir darüber nie Gedanken gemacht. Aber wenn Sie von mir hören wollen, daß es mir außerordentlich schwerfällt, an sein romantisches Interesse für Schwester Barrymore zu glauben, bitte, sage ich das, ohne zu zögern. Noch schwerer freilich fällt es mir zu glauben, daß Schwester Barrymore eine heimliche Leidenschaft für Sir Herbert gehegt haben soll.« Er runzelte zweifelnd die Stirn und sah Rathbone ganz offen an.
    »Es fällt Ihnen schwer, das zu glauben, Dr. Beck?« fragte Rathbone ausgesprochen deutlich.
    »In der Tat.«
    »Würden Sie sich als naiven, weltfremden Mann bezeichnen?«
    Kristians Mund krümmte sich zu einem selbstironischen Lächeln. »Nein – nein, das würde ich nicht.«
    »Wenn Sie das für so überraschend und schwerlich zu glauben halten, ist es dann auch so schwerlich zu glauben, daß sich Sir Herbert dessen einfach nicht bewußt war?« Obwohl er es versuchte, vermochte Rathbone den triumphierenden Ton nicht zu unterdrücken.
    Kristian machte ein wehmütiges Gesicht. »Nein – nein, das schiene mir unausweichlich.«
    Rathbone mußte an die Verdachtsmomente denken, die Monk in bezug auf Kristian Beck geäußert hatte: der Streit mit Prudence, den man gehört hatte, die Möglichkeit einer Erpressung, die Tatsache, daß er die ganze Nacht über im Krankenhaus

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