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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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gerufen?«
    »Aber ja, natürlich hat man das!« sagte er spitz. Mit einemmal regte sich seine alte Verachtung für Runcorn wieder, ganz zu schweigen von seinem Unwillen darüber, nicht mehr selbst bei der Polizei zu sein, mit seinem alten Rang, der Macht und dem Respekt – Dinge, die er sich hart erarbeitet hatte, mochten sie noch so sehr auf Angst basiert haben. »Aber sie hat kein sonderliches Vertrauen, daß die Polizei den Fall löst.«
    Hester legte die Stirn in Falten und sah ihn aufmerksam an.
    »Ist das alles?«
    »Alles? Genügt Ihnen das nicht?« Fassungslos hob er die Stimme. »Wir haben weder Macht noch Befugnisse, und bisher gibt es auch nicht einen offensichtlichen Anhaltspunkt.« Böse stach er mit dem Finger auf die Armstütze des Sessels ein. »Wir haben kein Recht, Fragen zu stellen, keinen Zugang zu den Informationen der Polizei, zu medizinischen Berichten, zu rein gar nichts. Ist Ihnen das noch nicht Herausforderung genug?«
    »Fehlt nur noch ein arroganter und unangenehmer Kollege«, meinte sie bissig. »Nur, um die Geschichte wirklich schwierig zu machen!« Sie stand auf und trat ans Fenster. »Also wirklich, zuweilen frage ich mich, wie man Sie bei der Polizei so lange behalten konnte!« Sie sah ihn an. »Warum ist Callandra eigentlich so besorgt? Und warum zweifelt sie daran, daß die Polizei den Fall löst? Ist es nicht ein bißchen früh für soviel Skepsis?«
    Der Zorn spannte seinen Körper wie eine Feder, und doch verspürte er einen merkwürdigen Trost, mit jemandem zusammenzusein, der nicht nur einen Blick für das Wesentliche hatte, sondern auch für Nuancen, die sich letztlich als weitaus entscheidender erweisen konnten. Es gab Zeiten, in denen er Hester nicht ausstehen konnte, aber andererseits langweilte sie ihn auch nie; ebensowenig hatte er sie jemals banal oder oberflächlich erlebt. Wenn er ehrlich war, verschaffte es ihm zuweilen mehr Befriedigung mit ihr zu streiten, als sich mit jemand anderem einig zu sein.
    »Nein«, sagte er offen. »Ich denke, sie fürchtet, man könne Dr. Beck beschuldigen, weil er Ausländer ist, ganz abgesehen davon, daß es womöglich einfacher ist, ihn als einen der herausragenden Chirurgen oder Honoratioren zu vernehmen. Mit einigem Glück stellt sich heraus, daß es eine der anderen Schwestern war«, die Verachtung verlieh seiner Stimme einen harten Unterton, »oder jemand, der gesellschaftlich genauso entbehrlich ist, aber es muß nicht unbedingt sein. Und dann gibt es im Krankenhaus nicht einen Mann, der nicht auf die eine oder andere Art wichtig wäre, seien es die Ärzte, der Kämmerer, die Kapläne, ja selbst die Mitglieder der Verwaltung.«
    »Was kann ich denn Ihrer Meinung nach zur Klärung beitragen?« Hester zog die Stirn in Falten und lehnte sich gegen das Fensterbrett. »Ich weiß noch weniger über die Leute in diesem Krankenhaus als Sie. London ist schließlich nicht Skutari! Und ich war in keinem der Krankenhäuser hier lange genug, um viel zu wissen.« Sie setzte eine Arme-Sünder-Miene auf, aber er wußte sehr wohl, daß die Erinnerung an ihre Entlassung nach wie vor schmerzte.
    »Sie möchte, daß Sie im Armenspital eine Stellung annehmen.« Er sah, wie sich ihre Miene verhärtete, und fuhr eilig fort. »Die sie Ihnen verschaffen wird. Wenn möglich schon morgen. Man wird jemanden brauchen, um Schwester Barrymore zu ersetzen. Aus Ihrer bevorzugten Position dort könnten Sie möglicherweise viel beobachten, was uns von Nutzen wäre. Auf keinen Fall jedoch dürfen Sie dort jemanden befragen!«
    »Warum nicht?« Ihre Brauen hoben sich. »Was soll ich schon erfahren, wenn ich nichts frage?«
    »Weil Sie sonst sehr schnell selbst als Leiche enden könnten, Sie Dummkopf«, blaffte er zurück. »Um Himmels willen, benutzen Sie Ihren Verstand! Eine eigensinnige junge Frau, die kein Blatt vor den Mund nahm, ist dort bereits ermordet worden! Wir brauchen keine zweite, um etwas zu beweisen.«
    »Herzlichen Dank für Ihre Sorge.« Schwungvoll drehte sie sich um und starrte wieder zum Fenster hinaus. »Dann werde ich eben diskret sein. Ich habe das unerwähnt gelassen in der Annahme, Sie würden es als selbstverständlich voraussetzen, aber offensichtlich ist dem nicht so. Ich habe nicht den Wunsch, mich ermorden zu lassen. Oder auch nur wegen meiner Neugier auf die Straße gesetzt zu werden. Ich bin sehr wohl imstande, meine Fragen so zu stellen, daß niemand auf den Gedanken kommt, mein Interesse könnte mehr als nur oberflächlich oder

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