Im Schatten der Gerechtigkeit
direkt.
Er erhob sich etwas von seinem Stuhl, eine Geste, nichts weiter. »Guten Tag, Madam.«
»Mrs. Penrose«, beantwortete sie die unausgesprochene Frage. »Julia Penrose. Das hier ist meine Schwester, Miss Marianne Gillespie.« Sie wies auf die jüngere Frau.
»Miss Gillespie.« Sir Herbert nahm sie mit einem Nicken zur Kenntnis. »Wie kann ich Ihnen helfen, Mrs. Penrose? Oder ist Ihre Schwester die Patientin?«
Sie sah etwas verblüfft aus, als hätte sie ihm soviel Scharfsicht nicht zugetraut. Keine von beiden konnte Hester sehen, die reglos in ihrem Alkoven stand. Eine Hand in der Luft, um ein Buch wegzustellen, spähte sie durch die Lücke im Regal. Wie eine elektrische Entladung schossen ihr die beiden Namen durch den Kopf.
Julia sprach für Marianne, um Sir Herbert zu antworten. »Ja. Ja, meine Schwester braucht Ihre Hilfe.«
Sir Herbert sah Marianne an, fragend und abschätzend zugleich, musterte sie, ihren Körperbau, die Ängstlichkeit, mit der sie die Finger vor sich zu verknoten versuchte, den angsterfüllten Blick ihrer strahlenden Augen.
»Bitte, setzen Sie sich doch, meine Damen«, forderte er sie auf und wies auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch. »Ich nehme an, Sie wollen bei der Konsultation zugegen sein, Mrs. Penrose?«
Julia hob das Kinn, um sofort jedem Versuch, sie loszuwerden, zu begegnen. »Das möchte ich. Ich kann alles bestätigen, was meine Schwester sagt.«
Sir Herberts Brauen hoben sich. »Habe ich denn Grund, an ihren Worten zu zweifeln, Madam?«
Julia biß sich auf die Lippe. »Das weiß ich nicht, aber es ist eine Möglichkeit, der ich zuvorkommen möchte. Die Situation ist schmerzlich genug. Ich kann nicht zulassen, daß man ihr noch weitere Qualen zufügt.« Sie setzte sich zurecht, als wolle sie ihre Röcke arrangieren. Man sah es ihrer Haltung an, wie unangenehm ihr das Ganze war. Dann stürzte sie sich mitten hinein: »Meine Schwester erwartet ein Kind…«
Sir Herberts Gesicht wurde ernst. Offensichtlich war ihm aufgefallen, daß man sie ihm als ledige Frau vorgestellt hatte.
»Tut mir leid«, sagte er kurz, aber seine Mißbilligung war nicht zu überhören.
Marianne errötete heftig, und Julias Augen blitzten zornig auf.
»Sie wurde vergewaltigt.« Sie benutzte ganz bewußt dieses Wort mit all seiner Brutalität; sie weigerte sich, irgendeinen schönfärbenden Ausdruck zu benutzen. »Ihre Schwangerschaft ist das Ergebnis davon.« Sie verstummte.
»Tatsächlich.« Sir Herbert sagte das weder skeptisch noch mitleidig. Er gab keinen Hinweis darauf, ob er ihr glaubte.
Julia deutete seinen Mangel an Entsetzen oder Mitleid als Unglauben. »Wenn Sie einen Beweis dafür wollen, Sir Herbert«, sagte sie eisig, »dann werde ich den privaten Ermittler rufen, der den Fall untersucht hat. Er wird Ihnen meine Worte bestätigen.«
»Sie haben die Angelegenheit nicht zur Anzeige gebracht?« Wieder hoben sich Sir Herberts feine blasse Brauen. »Es handelt sich da um ein sehr ernstes Verbrechen, Mrs. Penrose. Eines der scheußlichsten überhaupt!«
Julia war aschfahl. »Dessen bin ich mir bewußt. Es ist aber auch eines, in dem man das Opfer nicht weniger hart bestraft als den Täter, nicht nur durch die öffentliche Meinung, sondern auch dadurch, daß es sein Erlebnis vor Gericht noch einmal durchleben muß. Und es muß sich von jedem anstarren und beurteilen lassen, der das Geld für eine Zeitung in der Tasche hat!« Sie holte tief Luft, die Hände in ihrem Schoß zitterten.
»Würden Sie Ihre Frau, Ihre Tochter einer solchen Tortur aussetzen, Sir? Und sagen Sie mir jetzt nicht, sie würden nie in eine solche Situation geraten! Meine Schwester war in ihrem eigenen Garten, in der Laube, allein, als sie von jemandem belästigt wurde, dem zu vertrauen sie allen Grund hatte.«
»Um so schlimmer das Verbrechen, meine liebe Dame«, erwiderte Sir Herbert ernst. »Jemandes Vertrauen zu mißbrauchen ist noch schändlicher, als einfach einer Fremden Gewalt anzutun.«
Julia war kreidebleich. Hester, in ihrem Alkoven, befürchtete schon, sie würde in Ohnmacht fallen. Sie machte Anstalten einzugreifen, ihr ein Glas Wasser anzubieten oder sie wenigstens zu stützen, als ihr Sir Herbert mit einem Blick andeutete zu bleiben, wo sie war.
»Ich bin mir der Ungeheuerlichkeit sehr wohl bewußt, Sir Herbert«, sagte Julia so leise, daß er sich vorbeugte und in seiner Konzentration die Brauen hochzog. »Mein eigener Gatte hat das Verbrechen begangen. Sie werden sicher verstehen,
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