Im Schatten der Leidenschaft
»Keiner wird dir etwas tun. Keiner will dich nach Bridewell bringen. Ich will dich mit zu mir nach Hause nehmen, wo es warm ist und du etwas zu essen bekommst. Wann hast du zum letzten Mal gegessen?«
Der Widerstand des Mädchens ließ nach, und ihr plötzlich scharf gewordener Blick wanderte hastig zwischen ihnen beiden hin und her. »Weiß nich’.«
»Ich verspreche, daß wir dir nichts tun«, wiederholte Chloe. »Wenn du gegessen hast und ich dir ein paar warme Kleider besorgt habe, kannst du jederzeit wieder gehen, wohin du willst. Das verspreche ich.«
»Sind Sie eine von den Wohltäterinnen ?« wollte das Mädchen wissen. »Ich war schon bei solchen. Sie predigen einem stundenlang, und es gibt nix zu essen außer Brot und ’n bißchen fette Brühe ... und das kriegste auch nur, wenn de zugibst, daß de ’n gefallenes Mädchen bist und ’s dir leid tut.«
»Oh, ich bin auch ein gefallenes Mädchen«, sagte Chloe fröhlich, ohne Hugos scharfes Einatmen zur Kenntnis zu nehmen. »Also brauchst du nicht zu fürchten, daß ich dir eine Predigt halten will. Und fette Brühe hasse ich, deswegen gibt es keine in unserem Haus.«
Hugo schloß verzweifelt die Augen. »Kein Wort jetzt mehr!« fuhr er sie an, da er wußte, daß sein Bursche große Ohren hatte. »Du hast wirklich keine Spur von Diskretion. Hinauf mit dir!« Er ließ Chloes Beute los, griff sein Mündel um die Taille und hob sie in den Wagen. »Willst du mit?« Er drehte sich wieder zu dem schwangeren Mädchen um, das seine Freiheit noch nicht zur Flucht genutzt hatte.
»Schätze schon«, sagte sie. »Und wir geh’n auch nich’ nach Bridewell?«
»Nein!« sagte Hugo ungeduldig. »Tun wir nicht.«
Das Mädchen kletterte mit Hugos Hilfe in den jetzt etwas überfüllten Wagen.
»Laß sie los«; sagte er knapp zu dem fasziniert zuschauenden Burschen, als er die Zügel wieder aufnahm.
»Jawoll, Herr.« Mit einem fröhlichen Grinsen ließ der Junge die Pferde los und spurtete zu seinem Platz hinten auf dem Wagen, während Hugo die Brook Street hinunterlenkte.
Chloe machte sich auf dem Sitz ganz klein, damit das Mädchen neben ihr Platz hatte. Auf diese Art kam sie ganz nahe an Hugo, der mit einem Blick auf sie herabsah, der nichts Gutes verhieß. Sie lächelte zögernd und rückte noch näher zu ihm, so daß
ihr Schenkel ganz fest an seinen drückte. Hugos Gesichtsausdruck wurde nicht milder.
Chloe wandte ihre Aufmerksamkeit dem Mädchen zu. »Wie heißt du?«
»Peg.«
»Wie alt bist du, Peg?«
»Weiß nich’.«
»Wo wohnst du?«
»An kei’m bestimmten Ort.« Sie zuckte mit den mageren Schultern, beugte sich nach vorn über ihren Bauch und legte ihre bloßen Arme um sich, damit der kalte Wind sie nicht so traf.
»Du hast kein Zuhause?«
Peg zuckte erneut mit den Schultern. »Manchmal schlaf’ ich bei meiner Oma. Sie is’ Köchin in ’nem großen Haus und läßt mich auch manchmal in der Waschküche schlafen. Aber die Haushälterin is ’ne echte Schreckschraube, und wenn sie mich finden würd’, würd’ meine Oma sofort ’rausfliegen.«
»Und was ist mit dem Vater von deinem Baby?«
»Was soll mit ihm sein?«
»Nun ... also wo ist er denn?«
»Keine Ahnung. Weiß nich’, wer das is’.«
»Oh.« Chloe schwieg angesichts der tieferen Bedeutung dieser Feststellung.
Hugo zügelte die Pferde vor dem Haus und sprang vom Wagen. Er half den beiden Frauen beim Absteigen und folgte ihnen ins Haus.
»Was zum Teufel ...?« Samuel starrte den Neuankömmling an, während Peg starr vor Schreck zusah, wie Dante seine riesigen Pfoten auf Chloes Schulter legte und ihr als überschwenglichen Willkommensgruß das Gesicht leckte.
»Oh, du hattest doch wohl nicht geglaubt, daß wir bei Bärenjungen aufhören würden, oder?« sagte Hugo sarkastisch.
Er wandte sich wieder zu Chloe um. »Kümmere dich um deinen Schützling und komm dann in die Bibliothek. Ich habe etwas mit dir zu besprechen.« Mit diesen Worten marschierte er in die Bibliothek und schlug die Tür hinter sich zu.
»Was soll’s, ich werde mir später Sorgen darüber machen. Runter jetzt mit dir, Dante. Ja, ich liebe dich auch, aber du machst
Peg angst.« Sie lächelte zuversichtlich und stellte ihren Schützling vor. »Das hier ist Peg, Samuel.«
»Ach ja?« Samuel betrachtete das Mädchen mit wenig Begeisterung. »Und bestimmt ist sie nicht besser, als es unbedingt sein muß.«
»Ich frag’ mich nur, was das dich angeht?« wollte die streitbare Peg wissen. Doch auch Samuel
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