Im Schatten der Leidenschaft
sah das mitleiderregende, unterernährte menschliche Wesen hinter der Aggression.
»Sie hat Hunger«, sagte Chloe. »Ich bringe sie in die Küche und gebe ihr was zum Essen, obwohl ich mir vorstellen kann, daß Alphonse nicht begeistert sein wird. Und dann, denke ich, werden wir etwas Wasser warm machen, damit sie baden kann, und ich suche ihr was zum Anziehen.«
»Baden?« quengelte Peg. »Ich gehe nicht baden.«
»Komm mit mir, Mädchen«, sagte Samuel. »Mrs. Herridge weiß bestimmt am besten, was du brauchst. Und wenn ich an deiner Stelle wäre, Mädel, würde ich in die Bibliothek gehen und sehen, was dich da erwartet. Je länger er darüber nachdenkt, um so schlimmer wird es werden.«
»Vermutlich.« Chloe zögerte immer noch. Mrs. Herridge war die Haushälterin und eine eher unnachgiebige Person. Aber Alphonse duldete sie noch eher in seiner Küche als Chloe und ihre verschiedenen Schützlinge. »Geh mit Samuel, Peg«, sagte sie. »Sie werden sich in der Küche um dich kümmern, und wenn du dich besser fühlst, reden wir darüber, was du als nächstes tun willst.«
»Ihr bringt mich aber nich’ nach Bridewell.« Peg starrte Samuel böse an, doch darunter lag Unsicherheit, gepaart mit Furcht.
»Nein, warum sollte ich so was tun?« sagte er und schüttelte den Kopf. »Komm, Mädchen, es wird Zeit, daß du was zum Essen bekommst. Schließlich hungerst du für zwei.«
Chloe sah zu, wie die immer noch zögernde Peg mit Samuel durch die Schwingtür in der Küche verschwand, dann riß sie sich zusammen und ging in die Bibliothek. Dante ging gleich zu seinem gewohnten Platz auf dem Kaminvorleger und rollte sich mit einem tiefen Seufzer zusammen.
»Wie wagst du es, solche Dinge zu sagen?« wollte Hugo wissen, noch bevor sie die Tür zugemacht hatte. »Wie konntest du nur so naiv und gedankenlos sein? Von allen beleidigenden, dummen Bemerkungen, die ich je gehört habe-«
»Aber ich wollte ihr doch nur gut Zureden«, unterbrach ihn Chloe. »Ich dachte, dann würde sie sich eher entspannen.«
»Oh, du dachtest, sie würde sich entspannen! Mein Gott im Himmel!« Er strich sich mit den Händen durchs Haar. »Und was denkst du, wie es klingen wird, wenn sie den Rest des Haushalts mit deiner guten Zurede unterhält. Ein gefallenes Mädchen! Chloe, ich weiß wirklich nicht, was ich mit dir machen soll!«
Diese mögliche Folge war ihr noch nicht in den Sinn gekommen. »Sie werden das nicht ernst nehmen«, sagte sie unsicher. »Sie werden es für einen Witz halten oder denken, daß sie mich mißverstanden hat.«
»Und wie kommst du auf den Gedanken?«
»Nun ... nun, weil es ganz offensichtlich absurd ist«, sagte sie. »O Hugo, du weißt doch, daß es so ist. Niemand kann auf den Gedanken kommen, daß ... daß ...«
»Daß ich mein Mündel verführt habe«, vollendete er den Satz an ihrer Stelle mit eisiger Stimme.
Chloe wurde klar, daß sie, ohne es zu wollen, Hugos Schuldgefühle zur vollen Entfaltung gebracht hatte. Jetzt würde er gleich wieder diesen schrecklichen Gesichtsausdruck bekommen ... wenn sie ihn nicht zu einer anderen Reaktion bewegte.
»Ach was«, stellte sie fest, nahm eine Zeitschrift in die Hand und tat so, als würde sie interessiert die erste Seite betrachten. »Ich wünschte, ich wüßte, wie es sich anfühlt, verführt zu werden. Das hört sich so an, als könnte es Spaß machen. Denn wenn ich mich recht erinnere, war ich diejenige, die dich verführt hat. Also sehe ich nicht ein, warum du dich allein dafür verantwortlich fühlen solltest.« Bei diesen Worten riskierte sie einen kurzen Blick über den Rand der Zeitschrift, um seine Reaktion abzuschätzen. Ihr Vorhaben schien nur zu gut funktioniert zu haben. Die Leere war aus seinem Gesicht verschwunden, und er wirkte sehr finster.
Er nahm ihr die Zeitschrift aus der Hand, und sie ergriff mit einem gespielt ängstlichen Quietschen die Flucht, bevor er sie fassen konnte.
»Göre!« Er sprang hinter ihr her, als sie aufs Sofa hopste und über die Rückenlehne kletterte. Sie tanzte hinter den Tisch und streckte ihm die Zunge heraus.
»Sag mir, wie es sich anfühlt, verführt zu werden, Hugo. Bitte, ich würde es schrecklich gern wissen.« Sie machte einen Satz zur Seite, als er um den Tisch herumkam, sprang auf einen Stuhl und legte ein Bein über die Rückenlehne, um darüberzuklettern. Ihre plötzliche Bewegung brachte den Stuhl aus dem Gleichgewicht, und er kippte um. Ihr erschrecktes Kreischen, als sie mit fliegenden Röcken zu
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