Im Schatten der Leidenschaft
erinnerte sich daran, wie Judith und ihr Bruder früher der konventionellen Gesellschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanals zugesetzt hatten. Ihn persönlich, der er eigentlich ein ganz traditionell denkender Mann gewesen war, hatte sie bestimmt ganz schön umgekrempelt.
Hugo nahm die Einladung gern an. Lady Carrington war Chloe eine gute Freundin geworden und betätigte sich, wie er vermutete, besänftigend bei jenen ordnungsliebenden Menschen, für die es Chloe doch dann und wann zu weit trieb.
Zu seiner Überraschung traf er Chloe und Lady Smallwood in Judiths Morgenzimmer. Natürlich war sie wie üblich von einer Schar Verehrer umgeben, einschließlich der drei, mit denen er sie in seinem Haus zurückgelassen hatte, aber es gab an der Sache absolut nichts auszusetzen. Er begrüßte sein Mündel mit einem kurzen Lächeln und beugte sich vor, um der Gastgeberin die Hand zu küssen.
Judith lächelte ihm freundlich zu und deutete auf den Platz neben sich. Hugo hatte etwas an sich, was sie unglaublich attraktiv fand. Sie vermutete, daß es die kleinen Fältchen um seine Augen waren, sowie die leicht melancholische Art seiner Haltung, so als hätte er alles gesehen und alles erlebt und doch immer noch etwas vermißt.
Chloe beobachtete Hugo unauffällig. Er und Lady Carrington flirteten außerordentlich eindringlich miteinander. Sie sah hinüber zu dem Marquis, der völlig unbeeindruckt schien von dem guten Verhältnis, das seine Frau zu Hugo hatte, nein, er lachte sogar mit ihnen über irgendeinen skandalösen Tratsch, den Judith in Hugos Ohr geflüstert hatte.
Chloe biß sich auf die Lippen und fand das Gespräch um sie her plötzlich langweilig wie das gleichmäßige Brabbeln in einem Schulzimmer. Wie konnte es ihr je gelingen, Hugo für sich zu gewinnen, wenn eine derart tiefe Kluft an mangelnder Erfahrung sie voneinander trennte? Natürlich mußte er Judith Devlin unwiderstehlich finden. Verschiedene Freundinnen Judiths hatten sich zu ihnen aufs Sofa gesetzt, und für Chloes neidischem Blick sah es so aus, als amüsierten sie sich mindestens doppelt so gut wie die jüngere Gruppe in ihrer Umgebung.
Sie stand plötzlich auf und sagte zu ihrer Anstandsdame: »Sind Sie damit einverstanden, wenn wir gehen, Madam?«
»Mein Gott.« Lady Smallwood hatte gerade ein sehr interessantes Schwätzchen mit Lady Isabel Henley geführt und dabei Honigkuchen gegessen, so daß die plötzliche Frage sie erschreckte. »Möchtest du wirklich schon gehen?«
»Ich sollte nach Hause zurück und sehen, wie es Peg geht«, sagte sie in verzweifelter Suche nach einem Grund, der ihren plötzlichen Aufbruch weniger unhöflich erscheinen ließ. »Das Baby muß jeden Tag kommen, und ich glaube nicht, daß Mrs. Herridge eine erfahrene Hebamme ist.«
»Und Sie, Miss Gresham?« fragte Marcus mit einem kleinen Lächeln.
»Nun, bei der Geburt eines Menschenbabys war ich noch nie dabei«, sagte Chloe und war froh, daß das interessante Thema sie auf andere Gedanken brachte. »Aber ich habe bei der Geburt eines Kalbes, eines Fohlens, eines Wurfs Hunde geholfen, und Beatrice hat auch sechs Kätzchen bekommen, also -« Sie hielt inne, als sie bemerkte, daß die ältere Hälfte ihrer Zuhörer sich vor Lachen schüttelte, während die jüngeren Leute sie ungläubig anstarrten. »Was ist daran so komisch?«
Hugo hatte Mitleid mit ihr. »Eigentlich ist es weniger komisch, Mädel, sondern einfach ungewöhnlich.«
»Oh, ich verstehe. Nun, ich muß mich verabschieden, Lady Carrington. Vielen Dank für den Tee.« Sie verbeugte sich kurz vor ihrer Gastgeberin und fragte sich, ob Hugo sich wohl entschließen würde, mit ihr zu kommen. Er stand dann zwar höflich auf, als sie sich verabschiedete, machte aber weiter keine Anstalten, selbst auch zu gehen, obwohl alle ihre Verehrer aufgesprungen waren, um sich ebenfalls zu verabschieden.
Judith begleitete sie zur Tür. »Lassen Sie mich wissen, wenn ich Ihnen mit Ihrem Schützling irgendwie helfen kann, Chloe«, sagte sie und küßte sie auf die Wange. »Und kümmern Sie sich nicht um das Gelächter. Sie sind nur voller Bewunderung angesichts Ihrer Kenntnisse und wissen nicht, wie sie sonst reagieren sollen.«
»Das bezweifle ich, Madam, aber vielen Dank für Ihre freundlichen Worte«, sagte Chloe mit einem kleinen, verstehenden Lächeln. Sie verschwand in Begleitung ihrer Verehrer und Lady Smallwoods.
»Sie ist lange nicht so naiv, wie es manchmal den Anschein hat«, bemerkte Judith leise, als sie sich
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