Im Schatten der Leidenschaft
rieche nichts. Aber ...« Er verließ seinen Platz auf der Schreibtischkante. »Ich möchte auf keinen Fall dein hübsches, kleines Näschen beleidigen.« Er zwickte sie leicht im Vorbeigehen in die Nase ... die unauffällig herzliche Geste eines Vormundes, ohne jeden Hinweis auf die Leidenschaft eines Liebhabers.
KAPITEL 22
In den Kleidern sehe ich nicht aus wie ein Junge, dachte Chloe, als sie am gleichen Abend vor dem Spiegel stand. Hosen aus Nankingstoff über einem weißen, weiten Hemd mit Spitzenkragen, dazu eine kurze, doppelreihige Jacke, die bis zur Taille reichte. Denis hatte sogar ein Paar weiße Strümpfe und ein Paar flache, schwarze Schuhe mitgebracht. Die Schuhe mußte sie an den Zehen mit Papier ausstopfen, aber abgesehen davon paßten die Sachen alle gut ... oder zumindest schien es ihr so. Doch irgend etwas war nicht so, wie es gehörte.
Sie runzelte die Stirn und drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Das Haus war still. Dante lag da und schaute ihr aus einem Auge zu, und Falstaff brabbelte leise auf seiner Stange vor sich hin. Die eng anliegende Jacke schien die Rundung ihrer Brüste eher zu betonen als zu verdecken, und ihre Hüften und ihr Hinterteil in der Hose waren viel auffälliger als unter Röcken.
Im Grunde war die ganze Wirkung unglaublich unschicklich. Lady Smallwood würde bei ihrem Anblick vermutlich so tief in Ohnmacht fallen, daß sie sich nie wieder erholte, und Hugo ... nun, Hugos Reaktion würde sie ja bald erfahren. Sie drückte sich die schwarze Samtkappe auf den Kopf und zog sich den Schild tief in die Stirn. Am Gesamteindruck änderte sich dadurch kaum etwas.
Die Uhr auf dem Kamin schlug zwei, und Chloe öffnete leise die Tür. Dante winselte, war es aber inzwischen gewöhnt, nachts mehrere Stunden allein zu bleiben, so daß er sich auch jetzt nur fest zusammenrollte, als sie in den dunklen Flur hinaushuschte.
Hugo war noch unterwegs, und Samuel erwartete ihn vermutlich in der Küche wie gewöhnlich. Wenn Hugo nicht ausgerechnet in den nächsten fünf Minuten zurückkam, würde ihr Plan gelingen. Sie eilte die Treppe hinunter, durch die Halle und stieß die Schwingtür zur Küche auf.
»Samuel, ich gehe mit ein paar Freunden aus«, sagte sie fröhlich. »Sag’ Hugo, er soll sich keine Sorgen machen.«
»W-w-was zum Teufel...« Samuel schrak entsetzt auf und sah blinzelnd die Erscheinung in der Tür an. »Was soll das denn heißen?«
»Ich gehe aus«, sagte sie. »Erkläre Hugo, daß ich in ein paar Stunden zurück bin. Wenn ihr die Haustür nicht abschließt, brauche ich auch niemanden zu wecken.«
Bevor Samuel genug in Schwung gekommen war, um auf die Beine zu kommen, war sie schon fort. Er brauchte einen Moment, um ihren unglaublichen Anblick zu verdauen, und dann fluchte er heftig und rannte aus der Küche. Die Haustür war zu, aber nicht verschlossen. Er riß sie auf und sah gerade noch, wie Chloe in ihrem unglaublichen Kostüm mit der Hilfe eines jungen Mannes in einen Wagen stieg.
»Jesus, Maria und Joseph«, murmelte Samuel und machte die Tür wieder zu. Diese Sache schlug dem Faß wirklich den Boden aus. Er kehrte in die Küche zurück und kratzte sich am Kopf. Sicher hatte Chloe ihre Gründe für diese Flucht.
Er stellte den Kessel aufs Feuer und machte Tee, als er Hugos Schritte in der Halle hörte. »Bist du noch auf, Samuel?« Hugo kam herein. »Du brauchst wirklich nicht meinetwegen immer aufzubleiben.«
»Ich weiß, nur heute wollte ich es gern«, sagte Samuel. »Aber ich überlasse es Ihnen, zu warten, bis das Mädel zurückkommt.« Er stellte einen Becher auf den Tisch. »Hier ist Ihr Tee.«
»Warten, bis sie zurückkommt?« fragte Hugo, und Alarmglocken schellten in seinem Kopf.
»Sie ist ausgegangen«, sagte Samuel und kehrte zu seinem Platz am Feuer zurück. »Ungefähr vor einer halben Stunde kam sie ganz lässig hier herein und sagte: >Samuel ich gehe aus, sag’ Hugo, daß ich in ein paar Stunden wieder da bin<... schließt die Tür nicht ab<, sagte sie, >dann brauche ich keinen zu wecken<.«
»Wohin ist sie gegangen, um Gottes Willen? Es ist halb drei Uhr morgens!«
»Ich weiß nicht ... und so wie sie angezogen war, würde ich lieber nicht raten wollen.« Er trank einen Schluck Tee und schloß fest die Lippen.
Hugo ächzte. »Spuck’s aus, Samuel. Ich kann die Spannung nicht länger ertragen.«
»Sie war angezogen wie ein Junge ... sah aber nicht besonders aus wie einer ... Kurven überall an den falschen Stellen«, fügte er
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