Im Schatten der Leidenschaft
Stunde später stand Chloe in dem eisigen Hof des Gasthauses, ihr Atem dampfte in der kalten Luft, und sie warteten darauf, daß die Pferde vor die Kutsche gespannt wurden. Denis stampfte auf, um sich zu wärmen, blies sich in die Hände und rieb sie aneinander. Crispin lehnte an der Wand des Gasthauses, sein Mund schmal vor Ungeduld angesichts der wenig effektiven Arbeit des Stallburschen, der eiskalte Finger hatte.
Chloe sah zu Denis herüber. Einen Augenblick lang hob er den Blick und sah sie an. Dann wandte er sich mit einer heftigen Kopfbewegung ab. Das war der Mann, mit dem sie getanzt und gelacht, geflirtet und dumme Spiele gespielt hatte. Und jetzt konnte er ihr nicht einmal mehr in die Augen sehen. Aus Schuldbewußtsein? Das bezweifelte Chloe irgendwie. Er war Mitglied der Bruderschaft. Er und Crispin hatten sicher beide über dem Herzen die Schlange eintätowiert. Sie hatten bestimmt nicht so etwas wie Schuldgefühle.
Wenn sie sie alle drei beobachteten, würde es unmöglich sein, ihnen zu entkommen. Vielleicht würde sie sie täuschen können, wenn sie in keiner Weise versuchte, sich zu wehren oder Widerstand zu leisten, auch dem verhaßten Crispin gegenüber nicht. Aber sie wußte, daß das eine geringe Hoffnung war.
Sie sah zu ihrem Bruder hinüber. Jasper würde in seiner Wachsamkeit nicht nachlassen. Sein Mund war wie ein schmaler Schnitt in der Schwere seines Gesichts, sein Kinn stand angriffslustig vor, und er fluchte auf die Langsamkeit des Burschen und schlug sein Stöckchen mit dem Silberknauf ungeduldig in die Handfläche der behandschuhten anderen Hand.
Chloe schauderte, und sofort warf er ihr einen prüfenden Blick aus seinen bleichen Augen zu. Er wußte, daß sie Angst hatte; auch wenn sie nur so tat, als würde sie vor Kälte schaudern, und sich fest in ihren Umhang wickelte, konnte sie ihn nicht täuschen. Sein Mund zuckte mit sarkastischer Zufriedenheit.
»Steigt ein«, befahl er und deutete mit der Hand auf die Kutsche.
Chloe gehorchte, ohne einen Augenblick zu zögern, und setzte sich wieder in ihre Ecke, wobei sie sich ihre Kapuze über die kalten Ohren zog.
Jasper beobachtete sie aus halbgeschlossenen Augen. Er hätte nicht erwartet, daß sie sich so schnell fügen würde. So wie er sie als Kind in Erinnerung hatte, war sie stur und eher jähzornig gewesen, ein leidenschaftliches Mädchen, dessen Gefühle schnell zu wecken waren. Er glaubte nicht, daß sie sich so sehr geändert hatte, um so interessanter war diese eingeschüchterte Art, ihr
Schicksal hinzunehmen. Er hatte ihr nicht besonders weh getan. Ein paar Drohungen, ein leerer Magen und ein paar Ohrfeigen konnten doch ein so dickköpfiges und gefühlsbetontes Wesen nicht einschüchtern. Da strenge körperliche Strafen auf einer derart öffentlichen Reise unmöglich waren, hatte er die Absicht gehabt, sie wenn nötig durch Drogen einzulullen. Niemand würde sich Gedanken machen wegen einer schläfrigen jungen Frau, die aus einer Kutsche getragen wurde. Aber bis jetzt war eine solche Maßnahme noch gar nicht nötig gewesen.
Chloe schloß wieder die Augen. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich so weniger verletzlich und den Männern weniger ausgeliefert. Was mochte wohl Hugo glauben, was mit ihr geschehen war? Hatte Persephone die Amme angenommen? Dante würde bestimmt unruhig sein ... ob jemand daran dachte, Demosthenes von der Kette zu lassen, damit er eine Runde im Hof drehen konnte? Die Stallburschen hatten alle furchtbare Angst vor ihm ... Diese verzweifelte Litanei ging in ihren Gedanken weiter und immer weiter, während die Kutsche sie Richtung Norden trug.
Hugo und Samuel nahmen die Spur am Vormittag in St. Albans auf. Der Gastwirt des »Roten Löwen«, in dem sie frühstückten, erzählte ihnen, daß drei Männer und eine junge Frau, die Schwester eines der Gentlemen, über Nacht bei ihm gewohnt hatten und um acht Uhr morgens wieder abgefahren waren.
»Welchen Eindruck hat die junge Dame auf Sie gemacht?« Hugo sah in seine Kaffeetasse, als wäre die Frage von geringer Bedeutung.
»Sie war sehr ruhig«, sagte der Wirt, während er einen Krug Bier für Samuel füllte. »Sie hatte sich nicht ganz wohlgefühlt - in diesen Kutschen geht’s auch manchmal ziemlich holperig zu. Aber heute morgen hat sie doch herzhaft gefrühstückt.«
»Was man bei jemand anderem ja als gutes Zeichen werten würde«, bemerkte Samuel, ohne jemand Bestimmten anzusprechen.
Hugo lächelte kurz. Samuels Gesellschaft hielt ihn bei der
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