Im Schatten der Leidenschaft
rebellierte angesichts der Ungerechtigkeit, und im Augenblick konnte sie sich nicht vorstellen, je wieder mehr als Abneigung für ihren Vormund zu empfinden.
»Du kannst dich genausogut nützlich machen«, sagte er und zuckte die Schultern.
In blinder Wut griff Chloe nach dem nächstliegenden Gegenstand, in diesem Falle dem Brotschneidebrett, und schleuderte es, mitsamt dem Brot, durch die Küche.
Hugo wich zur Seite aus, aber sie hatte das Geschoß nicht genau gezielt, und es krachte laut an die Wand. Der Brotlaib war unterwegs andere Wege gegangen und fiel auf den Boden vor Dantes Nase. Er schnupperte mit lang hängender Zunge daran.
Chloe machte einen Satz in Richtung Tür, und Dante ließ seine unerwartete Beute liegen und folgte ihr. Die Tür schlug laut hinter ihnen zu. Samuel bückte sich, um das Brot aufzuheben. Er untersuchte es kritisch. »Sie waren ein bißchen hart mit dem Mädel, oder?« Er wischte das Brot mit seiner Schürze ab. »Was hat sie denn getan, um diesen harten Ton zu verdienen?«
»Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, Mann!« Hugo setzte heftig seinen Becher ab. »Sorge nur dafür, daß sie diesen Hund als Beschützer bei sich behält, und laß sie nicht aus den Augen.« Er verließ die Küche.
Samuel hörte seine Schritte auf der Kellertreppe. Er kratzte sich mit gerunzelter Stirn an der Nase. In den vergangenen Jahren hatte er Sir Hugo Lattimer durch dick und dünn begleitet. Er hatte zugesehen, wie aus dem zwanzigjährigen Burschen ein weiser, reifer und siegreicher Befehlshaber eines Schiffes wurde. Und er hatte neben ihm gesessen vor der Brandyflasche während der depressiven Phasen seiner Landgänge. Er hatte nie erfahren, wodurch sie hervorgerufen worden waren, auch wenn er spürte, daß ihre Ursache ein tiefer Groll Hugos gegen sich selbst war.
Er hatte seine Stimmungen stoisch hingenommen, weil er immer sicher sein konnte, daß - sobald die Anker gelichtet wurden -sein Freund wieder der fröhliche, schnelldenkende, befehlssichere Kapitän wurde. Er war auch überzeugt gewesen, daß kein junger Mann von Hugos Charakter für immer und alle Zeit unter einem solch bitteren Fluch von Selbstvorwürfen leben konnte. Irgend etwas würde geschehen, das die Verletzungen seiner Seele heilen würde.
Aber mit der Rückkehr nach Denholm Manor waren die Depressionen nur häufiger und heftiger geworden. Wieder bekam Samuel keine Erklärung, aber er erriet, daß wohl die Nähe der Vergangenheit sie förderte, sowie die fehlende Aufgabe in Hugos gegenwärtigem Leben. Und der Brandy verschärfte das Elend nur. Geduldig hatte er alles hingenommen in der Überzeugung, daß schon irgend etwas geschehen würde, um alles ins Lot zu bringen.
Dann war das Mädchen gekommen. Sie war ein kluges, lebhaftes junges Ding mit ausgeprägter Unabhängigkeit und Entschlossenheit, die eine feste Hand erforderte. Samuel hatte gehofft, daß sie genau das Richtige sein würde, um Sir Hugo auf andere Gedanken zu bringen.
Jetzt begann Samuel zu vermuten, daß Miss Gresham noch viel mehr getan hatte. Ob das gut war oder nicht, würde sich noch herausstellen müssen.
Er hörte Hugos Schritte auf der Kellertreppe zurückkommen. Sie ertönten in der Halle, dann knallte die Tür zur Bibliothek. Vermutlich zog er sich zu einer langen Sitzung zurück mit dem Getränk, das er gerade aus dem Keller geholt hatte. Samuel seufzte. Ganz offensichtlich war im Augenblick die Ankunft von Miss Gresham kein hilfreiches Ereignis.
Hugo öffnete die Flasche und goß sein Glas voll. Sein Kopf begann zu schmerzen, und nur noch mehr Brandy würde den Schmerz lindern. Er ging zum Fenster und sah auf den zugewachsenen Garten hinaus. Eine Kletterrose, die unbedingt beschnitten werden mußte, hing vor dem Fenster, in enger Verbin-
dung mit einem üppigen Geißblatt, und beide füllten den Raum mit ihren süßen Düften. Plötzlich schien Chloes Duft wieder in der Luft zu hängen, eine quälende Erinnerung, die so lebhaft war, daß sie fast wirklich zu sein schien.
Er murmelte einen Fluch und wandte sich vom Fenster ab, da fiel sein Blick auf das Sofa, auf dem sie mit solch plötzlicher, verzehrender Leidenschaft zusammengekommen waren. Der Fleck von ihrem jungfräulichen Blut starrte ihn mit dunklem Vorwurf an.
Herr im Himmel! Und wenn sie nun schwanger wurde? Wie hatte er nur je zulassen können, daß so etwas geschah? Wie hatte er gegenüber den Folgen seiner betrunkenen Narrheit so blind sein können, daß er nicht einmal
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