Im Schatten der Leidenschaft
Chloe. Er erreichte die Wiese, als die letzten Menschen an ihm vorüberhasteten, und saß dann entsetzt auf seinem Pferd, als er das Schlachtfeld vor sich sah. Lag Chloe irgendwo unter einem dieser Haufen verletzter Menschen? So zart wie sie war, würde sie das wohl kaum überleben können.
Er stieg ab und band sein Pferd bei der Kirche an einen Pfosten. Dann ging er auf die Weide hinaus. Er sah sie fast sofort, wie sie neben einem regungslosen Verletzten auf dem Boden kniete. Sie hatten ihren Hut verloren, und ihr Haar löste sich aus dem Halt der Haarnadeln. Die Sonne erzeugte einen solch strahlenden Glanz darauf, daß es sich beinah blendend von dem schrecklichen Hintergrund abhob.
»Chloe!« Er rief ihren Namen schon von weitem, und seine Knie wurden plötzlich ganz weich vor Erleichterung.
Sie sah ihn an, stand eilig auf und rannte auf ihn zu. »Oh, Hugo!« Sie schmiegte sich an seine Brust und legte ihre Arme fest um seine Taille in einer Geste voller Verlangen, die seine Gedanken sofort mit Erinnerungen überquellen ließ und seinen Körper in Unruhe versetzte.
Sie weinte, und ihre Augen wirkten wie ertrunkene Kornblumen.
»Bist du verletzt?« fragte er mit rauher Stimme.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein ... nein, eigentlich nicht ... aber ich bin so wütend. Wie konnten sie das nur tun? Welche Rechtfertigung gibt es dafür? Das war wirklich schrecklich ... absolut furchtbar, Hugo.« Ihre Stimme ging in einem Schluchzen unter.
»Seht.« Er strich ihr über das Haar und zog sein Taschentuch hervor. »Trockne dir die Tränen ab ... und putz dir die Nase.« Er wischte ihr Gesicht mit einer Heftigkeit ab, die seine Gefühle verbarg und es ihm ermöglichte, sie zu sehen, wie er sie sehen wollte - als verzweifeltes Kind, das seinen Trost brauchte.
»Und meinen Hut habe ich auch verloren«, sagte sie in hilfloser Verzweiflung.
»Wir können einen neuen kaufen.«
»Aber dieser eine hat mir besonders gut gefallen.« Sie sah sich auf der Wiese um und sagte in einem erneuten Ausbruch von Zorn: »Warum? Warum können sie nur so etwas machen?«
»Aus Angst«, sagte er ruhig. »In Frankreich haben sie erfahren, welche Macht die Menge hat. Sie haben furchtbare Angst vor einem allgemeinen Aufstand.«
»Ich würde sie am liebsten alle unter die Guillotine legen«, sagte sie wütend. »Und dasitzen und stricken, während ihre Köpfe in den Korb fallen ... Nur daß ich eben nicht stricken kann.« Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen, und plötzlich setzte sie sich auf den Boden.
»Was ist los?« Erschreckt beugte sich Hugo über sie.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Meine Beine zittern. Vielleicht, weil ich den ganzen Tag außer einem Apfel nichts gegessen habe.«
Hugo hob sie hoch, weil er sicher war, daß mehr als nur ihr üblicher Hunger hinter der Schwäche steckte. Doch die Befriedigung eines solch grundlegenden Bedürfnisses würde es vielleicht leichter für sie machen, etwas Abstand zu den Schrecken des Nachmittags zu bekommen. »Dem kann man leicht abhelfen.« Er nahm ihre Hand. »Hier kannst du doch nichts mehr tun.«
Chloe sah sich auf der Wiese um. Die Bürger von Manchester kümmerten sich um die ihrigen, und die Verletzten wurden von Familienangehörigen und Freunden abgeholt.
Chloes Zorn war immer noch spürbar, doch sie wurde hier wirklich nicht mehr gebraucht. Es war an der Zeit, daß sie sich um ihre eigenen Sorgen kümmerte.
»Crispin wollte eigentlich etwas zum Picknickmachen mitbringen ... Oh, ich muß Ihnen von Crispin erzählen.« Sie schnüffelte und wischte sich die Nase mit dem freien Handrücken ab, während Hugo sie an der anderen Hand von der Wiese führte.
»Ich weiß es schon.« Er gab ihr noch einmal sein Taschentuch.
»Woher?« Sie putzte sich kräftig die Nase und hielt ihm das zerknüllte Bündel hin.
»Behalte es«, sagte er. »Ich bin ihm begegnet, und ich habe ihn, äh, sagen wir mal ... dazu gebracht, mir zu erzählen, daß du ihn recht hastig verlassen hattest. Er gab vor, nicht zu wissen, warum.«
»Da stand eine Postkutsche am Straßenrand, und ich hatte das seltsame Gefühl, sie wollten mich zwingen - dazu gebracht?« Sie sah einen Augenblick lang auf. »Haben Sie ihm weh getan?«
»Nicht besonders.«
»Schade.«
Für ein Mädchen, das immer so sehr die Seite der Benachteiligten vertritt, kann sie bemerkenswert sein, dachte Hugo. »Crispin gehorcht nur deinem Halbbruder«, erklärte er ihr. »So wie die Männer mit Dante vor ein paar Tagen. Das wußte
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