Im Schatten der Leidenschaft
ritt er davon.
Hugo lockerte nachdenklich seine Finger. Die Finger eines Musikers. Zart und empfindlich. Ein zufriedenes Lächeln spielte um seine Lippen, dann stieg er wieder auf sein Pferd und ritt in Richtung Manchester, wo Chloe vermutlich irgendwo mitten in der Menge zu finden war. Aber was zum Teufel hatten die Leute nur alle vor?
Und dann fiel es ihm wieder ein. Es war Montag, der sechzehnte August. Der Tag, an dem der Redner Hunt bei der Reformversammlung auf den St. Peter’s Fields sprechen sollte. Es ging um allgemeines Wahlrecht, und die Polizei würde vermutlich auf das Schlimmste vorbereitet sein.
Er verließ die Straße und ritt über die Felder, um so schnell wie möglich die Leute zu umgehen und die Stadt zu erreichen.
Chloe blieb in der Menge, die St. Peter’s Fields immer weiter füllte. Die Erregung der Leute war ansteckend, und sie dachte einen Augenblick lang nicht an Crispin und die Postkutsche. Das alles war sehr interessant, und sie würde es unbedingt mit Hugo besprechen müssen, aber im Augenblick konnte sie nichts daran ändern.
Immer mehr Menschen strömten auf die große Wiese, eine vielköpfige, lärmende Masse mit Bannern. Gute Laune schien in der Luft zu liegen, Kinder spielten zwischen den Erwachsenen, Pärchen gingen Arm in Arm und tauschten flüchtige Küsse aus. Die Tribüne war behängt mit bunten Fahnen, die auch fröhlich an Fahnenmasten flatterten. Die Menge wogte singend hin und her, und alle schauten neugierig zur Tribüne, die Redner Hunt bald betreten würde.
Chloe war am Rand der Menschenmenge und blieb unbeirrt auf ihrem Pferd sitzen. Sie konnte frei über die Leute bis zur Tribüne sehen, wo jetzt eine Gruppe von Männern erschien. Einige laute Willkommensrufe erhoben sich aus der Menge, und die Parole »Arbeiter wollen wählen« erfüllte die matte Sommerbrise.
Ein Mann mit einem ungewöhnlichen weißen Zylinder trat an den Rand der Tribüne, und die Menge wurde lauter. Chloe erinnerte sich daran, daß der Mann, der ihnen bei ihrem letzten Besuch in Manchester von der Reformversammlung erzählt hatte, auch einen weißen Zylinder getragen hatte. Wahrscheinlich war das ein Zeichen der Zusammengehörigkeit.
Redner Hunts Stimme erhob sich über die Zuschauer, die zu einem leisen Murmeln verstummten. Aber jedesmal, wenn der Redner eine Pause machte, brüllte die Menge beifällig und rief immer wieder seinen Namen.
Chloe wurde unruhig, als sie versuchte, trotz des Brodelns der Menge die Stimme des Redners zu verstehen, und dann hörte sie plötzlich andere Stimmen, ein eigenartiges Murmeln von einer Seite der Versammlung her. Sie drehte sich im Sattel um und schaute zu der Kirche am anderen Ende der großen Wiese hinüber.
»Das sind wahrscheinlich die Leute aus Blackburn, die da kommen«, sagte ein stämmiger Mann mit Arbeitsschürze neben ihrem Pferd. Andere stimmten ihm murmelnd zu und stellten sich auf die Zehenspitzen, um zu sehen, was der Grund für die Unruhe war.
»Das sind Soldaten«, sagte Chloe. Eine Abteilung Kavallerie in blauweißen Uniformen kam um die Ecke einer Gartenmauer getrabt. Die Sonne spiegelte sich hell in den bloße Klingen ihrer Degen. Sie stellten sich in Formation vor einer Reihe von Häusern auf, die der Rednertribüne genau gegenüber lag.
Ein Ruf erhob sich aus der Menge, der nach Chloes Meinung ganz wohlmeinend klang, eher eine Art Willkommensruf. Und dann geschah es. Die Kavalleriesoldaten erhoben sich in den Steigbügeln und schwenkten ihre Degen über den Köpfen. Jemand brüllte einen Befehl, und mit einem gemeinschaftlichen Schrei gaben die Männer ihren Pferden die Sporen und griffen die vorderen Reihen der Menge an, während sie ihre Klingen nach links und rechts zwischen die Leute sausen ließen.
Chloe starrte in grauenvollem Schrecken hinüber, als die ersten Reihen dem Angriff der Kavallerie auszuweichen versuchten und schrille Schreie die Luft zerrissen. In ihrer Umgebung riefen sich die Menschen zu: »Bleibt steh’n ... bleibt steh’n.« Die Menge rührte sich nicht vom Fleck, und die Soldaten fielen eine Minute lang zurück, weil es ihnen nicht gelang, sich einen Weg durch die dichten Menschentrauben zu bahnen, um Redner Hunt zu erreichen. Dann griffen sie zum zweiten Mal an und hieben auf die Menschen ein, die ihnen den Weg versperrten. Chloe konnte Blut spritzen sehen, und die Schreie wurden qualvoll, mischten sich mit dem Ächzen und Stöhnen des Grauens.
»In Deckung!« schrie jemand. »Sie bringen sie um,
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