Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Wahrscheinlich erinnert sie sich nicht mal dran, welche von denen Sie waren.«
Sie schluckt. Sieht ihn mit großen Augen an, als hätte sie gerade erst bemerkt, dass er da ist. Und wankt davon Richtung Café.
Er bemerkt, dass Vic, der in einem Autoscooter sitzt und ihn lässig mit einer Hand steuert, sie beide beobachtet. Er hat sie aus dem Gang herauskommen sehen und wirkt belustigt. Jason grinst ihm zu und macht zwei eindeutige Gesten: Er zeichnet mit beiden Händen ihre Hüftkurven nach und stößt das Becken in die Richtung ihres Rückens. Vic lacht und hält den Daumen in die Höhe. Dann springt er auf das Heck eines anderen Gefährts, um den Mädels einen Nervenkitzel zu verschaffen.
Sie braucht einen starken Kaffee. Ihre Hände zittern, und im Gegensatz zu diesen Gesundheitslangweilern findet sie, dass Koffein sie beruhigt. Doch der Kaffee im Funnland hat selbstverständlich nicht eine einzige Kaffeebohne gesehen, so künstlich schmeckt er. Sie füllt ihre Tasse mit Kaffeesahne, schüttet drei Tütchen Zucker darüber und trägt das Ganze hinaus zu einer Bank. Sie schaut auf ihre Armbanduhr und ist überrascht, dass erst eine Viertelstunde vergangen ist, seit sie mit Jim telefoniert hat.
Der Vergnügungspark hat sich gefüllt. Die Kinderkarussells sind jetzt in Betrieb, und auf dem Holztisch neben ihr werden erste Windeln gewechselt. Sie merkt, dass sie noch immer zittert. Sie nimmt den Deckel vom Kaffee, nippt daran und verbrüht sich die Lippen. Sie hat vergessen, wie viel heißer als richtiger Kaffee dieses Instantzeug ist. Wundert sich über die Veränderungen in ihrem Leben, seit sie Bel Oldacre zum letzten Mal gesehen hat: Aus ihr ist ein Espresso trinkendes, Pesto essendes Mitglied der Balsamico-Klasse geworden. Damals daheim– in der Zeit, an die sie als » davor« denkt– bestand eine Mahlzeit aus Tee vom Budgen-Supermarkt und Weizentoast mit Marmelade, Kartoffeln und Spaghetti, und gelegentlich einer regelrechten Fleischschwemme– immer dann, wenn ihr Vater sein Gewehr zu den Wellblechhütten mitnahm, die als Schweineställe dienten. Ein Ort wie dieser hier wäre ihr wie ein unerreichbares Paradies erschienen, als ein Ort, den man im Fernsehen sieht und davon träumt, ihn einmal zu besuchen.
War das wirklich Bel? Wirklich und wahrhaftig? Diese Frau mit der wettergegerbten Haut, dem messingfarbenen, kurz geschnittenen Haar, dem fleckigen Kunststoffoverall? Mein Gott. Eigentlich sollte doch viel eher ich so aussehen.
Kirsty glaubt nicht, dass sie sie wiedererkannt hätte, wäre sie selbst nicht wiedererkannt worden. Obwohl es sie überrascht, dass niemand daran gedacht hat, diesen– so wiedererkennbaren, oft erwähnten– Schönheitsfehler aus Bels Gesicht zu entfernen, als sie jeweils eine neue Identität annahmen. Sie vermutet, dass auch in ihrem Gesicht– Muttermal oder nicht– viel mehr von dem Kind, das sie einmal war, wiederzuerkennen ist, als sie sich klarmacht. Und dieser Gedanke flößt ihr Angst ein. Bisher ist Bel für sie immer elf Jahre alt geblieben. Ehrlich gesagt, erinnert sie sich kaum noch an sie; ist mit ihren Gesichtszügen eher von diesen scheußlichen Schulfotos her vertraut, die jedes Mal aus dem Archiv geholt werden, wenn wieder mal irgendein Jahrestag ist oder ein anderes Kind als » unsäglich« bezeichnet wird. Sie kennen sich von einem einzigen Tag. Und danach, als sie schweigend Seite an Seite auf der Anklagebank saßen, sahen sie sich kaum an, außer wenn eine von ihnen eine Aussage machte. Sie waren keineswegs beste Freundinnen gewesen. Nicht einmal die Gewohnheit hatte sie zusammengeschweißt.
Aber jetzt sind ihre Namen in den Köpfen der Menschen untrennbar miteinander verbunden. Und ihnen beiden ist gesetzlich verboten, sich jemals im Leben wiederzusehen. Venables und Thompson, Mary Bell, Walker und Oldacre– früher gab es noch kein Kinderschutzprogramm, sodass die Namen von zu Mördern gewordenen Kindern genauso bekannt waren wie die Namen ihrer Opfer, häufig sogar bekannter. Wenn sie die Namen bei einem Abendessen erwähnte, nickte die Mehrzahl der Gäste wissend. Chloe Francis? Da hätte man ihnen wahrscheinlich auf die Sprünge helfen müssen.
Ihr Mund ist staubtrocken. Sie blinzelt und zwingt sich mehr von der brühheißen Flüssigkeit zwischen die Lippen, behält sie auf der Zunge und atmet tief ein, um sie abzukühlen.
Es ist eine Bedingung deiner Freiheit, Kirsty, sagt sie zu sich selbst. Keiner hier hat die geringste Ahnung, dass es so etwas
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