Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
das Spiegelkabinett hineingeht, um sie zu korrigieren.
» Ich habe nichts damit zu schaffen«, sagt er. » Ich komm Sie holen, aber wenn jemand da sein sollte, bin ich hier, um Sie rauszuwerfen, okay?«
» Selbstverständlich. Vielen Dank schon mal.«
Er grunzt und bleibt am Fuß einer Metalltreppe stehen. » Also«, sagt er. » Da oben ist es.«
Sie hastet an ihm vorbei und legt die Hand auf das rohrförmige Treppengeländer. Jason entfernt sich eilig.
Sie ist schon halb oben, als sich die Tür am Ende der Treppe plötzlich öffnet. Sie erstarrt. Sie kann nirgendwo hin, ist auf frischer Tat ertappt. Eine Frau kommt heraus. Sie ist groß und blond gefärbt, mit praktischer Kurzhaarfrisur und einer Haut, die schon mal bessere Tage gesehen hat. Sie trägt Gummihandschuhe, und an ihrem Arm baumelt ein Eimer voll mit Reinigungsutensilien. Über ihrer Oberlippe prangt ein Muttermal. Sie bleibt stehen und wirkt verblüfft.
» Kann ich Ihnen helfen?«
» Ich wollte nur…« Verzweifelt sucht Kirsty nach einer Ausrede. Die zwanzig Pfund waren rausgeschmissenes Geld.
» Das Gebäude ist geschlossen«, sagt die Frau. » Was machen Sie überhaupt hier hinten? Sie dürfen hier nicht sein.«
» Ich war bloß…«, sagt Kirsty noch mal und denkt sich dann: Was soll’s. Jetzt bin ich hier. Was wollen sie schon tun? Mich verhaften? Sie setzt ihr überzeugungskräftigstes, freundlichstes und verschwörerischstes Gesicht auf. » Ich wollte bloß mal einen Blick hineinwerfen«, sagt sie zu ihr. » Ich nehme nicht an, dass Sie…? Nur einen kleinen Augenblick?«
Die Frau sieht sie an wie ein widerliches Insekt. Sie kommt mir bekannt vor, denkt Kirsty. Warum nur? Sie lächelt sie freundlich an. Überlegt, ob sie noch einen Zwanziger in ihrem Geldbeutel hat. » Kommen Sie schon«, sagt sie. » Nur für eine Minute.«
Ein Stirnrunzeln. Dann schreit die Frau dem davoneilenden Rücken in der Gasse hinterher: » Jason! Wir haben hier eine Streunerin!«
Kirsty sieht, wie sich Jason zögernd zu ihnen umdreht. Ihr bleiben nur ein paar Sekunden für ihren letzten Vorstoß.
» Ach bitte«, sagt sie. » Seien Sie ein Schatz. Ich werde auch nichts beschädigen.«
» Herrgott noch mal!«, sagt die Frau. » Ihr kotzt mich wirklich an. Ehrlich. Begreifen Sie denn nicht? Da drin lag ein totes Mädchen. Keine– Attrappe wie in einem Film. Ein Mädchen. Ein süßer, atmender, lachender Teenager. Sie hat gelebt, aber jetzt ist sie tot, und das Leben von Menschen ist zerstört–«
Sie bricht mitten im Satz ab, und Kirsty hört ein Keuchen, als hätte ihr jemand einen Schlag in den Solarplexus versetzt. Sie sieht der Frau ins Gesicht. Aschfahl ist sie geworden, die Augen sind hervorgetreten und ihr zurückgezogener Unterkiefer entblößt eine Reihe schief stehender Zähne.
» Was ist denn?«, fragt sie.
» Nein«, sagt die Frau. » Nein, nein, nein. Scheiße, nein. Du kannst nicht hier sein. Du kannst nicht. Scheiße. Du musst gehen.« Sie klammert sich am Geländer fest, als hätte ihre Beine alle Kraft verlassen. » Oh Gott«, sagt sie fast weinend. » Oh mein Gott, bitte nein. Geh, Jade. Du musst gehen, jetzt.«
KAPITEL 13
Jetzt versteht Amber, was mit » das Blut steigt einem zu Kopf« gemeint ist. Der Druck in ihrem Schädel ist so heftig, dass sie das Gefühl hat, er könne jeden Augenblick wie eine Eierschale auseinanderbrechen. Sie spürt auch ihr Herz, bumm-bumm-bumm, fühlt, wie sie die Kraft verlässt, und an den Rändern ihres Gesichtsfelds breitet sich Dunkelheit aus. Das kann nicht sein. Unmöglich. Sechzig Millionen Menschen in diesem Land– wie hoch stehen da die Chancen, dass sie ausgerechnet… hier ist?
Jade sieht, nachdem sie Amber ihren Namen hat sagen hören, aus, als hätten sie die gleichen körperlichen Phänomene befallen. Schwankend und totenbleich steht sie auf der untersten Treppenstufe. Starrt zu Amber hoch, als hätte sie einen Geist gesehen. In gewisser Weise hat sie das auch. Sie sind alle beide seit Jahren tot und begraben. Annabel Oldacre und Jade Walker hörten in jeder Hinsicht auf zu existieren, als sie im Rechtssystem verschwanden. In der Haft wäre es nicht sicher für sie gewesen, ihre Namen zu behalten, auch wenn sie theoretisch noch als unschuldig galten. Sie selbst hätten vermutlich nie Besuch bekommen, aber ihre kriminellen Gefährten bekamen welche, und selbst damals konnte man eine hübsche Stange Geld von Murdochs Revolverblättern für Berichte von drinnen kriegen. Insbesondere
Weitere Kostenlose Bücher