Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
wie eine Bewährungsauflage auf deinen Namen gibt, nichtsdestotrotz existiert sie. Für den Rest deines Lebens. Euch ist nicht gestattet, euch jemals wieder zu sehen, miteinander zu reden oder in irgendeiner anderen Form Kontakt zu haben. Als ob du das je gewollt hast.
Oh, ich schon, kreischt eine kleine, wütende Stimme in ihrem Inneren. Ich schon. Mehr als alles auf der Welt. Sie ist die Einzige, die versteht. Die weiß, wie es sich anfühlt. Das einzige andere Ich auf Erden. Fünfundzwanzig Jahre habe ich es unterdrückt, mit meiner Schuld gelebt, die Kunst der Verstellung meisterhaft beherrscht. Fünfundzwanzig Jahre ohne Familie, und alle belogen: die Freunde, die ich gefunden habe, Jim, meine Kinder. Er ist kein nachtragender Mensch. Aber könnte er mich noch lieben, wenn er wüsste, dass er mit dem » Verhasstesten Kind Großbritanniens« verheiratet ist?
Bel Oldacre. Kirsty kennt nicht mal ihren neuen Namen.
Es regnet, als Amber den Mut findet, zu gehen. Stundenlang hat sie sich versteckt: zuerst im leeren Spiegellabyrinth, dann zwischen den Ordnern und den Kisten mit den Wischtüchern in ihrem Büro, bis die Schicht zu Ende ist. Aus Angst, hinauszugehen und ihr Gesicht im Vergnügungspark zu zeigen. Draußen das Rumpeln der Achterbahn und das Kreischen der Fahrgäste; drinnen der stille Schrei in ihren Ohren. Dann, als ein englisches Sommergewitter losbricht, ersterben die Geräusche und die Musik, und Fahrgeschäft um Fahrgeschäft kommt zum Stillstand. Es lohnt nicht, Energie zu verschwenden, weil der Andrang ausbleibt, sobald der Regen einsetzt. Kunden, die bleiben wollen, erhalten eine Vergütung oder bekommen freien Eintritt an einem anderen Tag angeboten. Die meisten anderen dagegen denken nicht einmal daran, danach zu fragen, sondern hetzen ihre heulenden Kinder unter die regensicheren Arkaden auf der Corniche hinaus.
Sie hat immer noch Angst. Sie schleicht aus ihrem Büro zum Personaleingang, als rechne sie damit, Jade würde in den Schatten lauern. Sie zieht sich ihr Fleece fest um die Brust und schlingt sich ihren Schal um den Kopf– jeder, der in Whitmouth lebt, hat, wohin er auch geht, immer einen Schal dabei, sogar im Hochsommer–, um ihr Gesicht zu verbergen. Verrückt, sie weiß es. Selbst wenn sich Jade noch hier herumgedrückt hätte, wäre sie vor einer Stunde mit den übrigen Nachzüglern hinausgeschafft worden. Trotzdem hat sie immer noch Angst.
Jason Murphy hat Unterschlupf im Betriebsraum gefunden, wo er, die Beine auf dem Tisch, eine Käse-Zwiebel-Pastete isst. Er trägt seinen marineblauen Pulli und die zurückgeschobene Schirmmütze und wirft ihr einen anmaßenden Blick zu, während er ihre Karte zur Registrierung des Schichtendes durch das Lesegerät zieht.
» Alles in Ordnung?«, fragt er.
Ärger steigt in ihr auf. Sie weiß ganz genau, wie Jade Walker zum Spiegellabyrinth gefunden hat. Und der Umstand, dass er weiß, dass da etwas im Busch ist, hat ihm eine gewisse Überlegenheit, ein albernes Machtbewusstsein verliehen. Er grinst, während er sie beobachtet.
» Nein«, sagt sie und dreht sich zu ihm um. » Nein, eigentlich nicht, Jason.«
Dieser Blick, dieses abstoßende Anspruchsdenken, die Weigerung zu akzeptieren, dass » Respekt« keine Einbahnstraße ist. Jason verlangt immerzu Respekt: Sie hat ihn schon auf Nachbarn, Kinder, wildfremde Männer auf der Straße losgehen und ihn einfordern sehen. Aber sie hat ihn nie etwas tun sehen, womit er ihn verdiente.
» Wenn du so was noch einmal machst«, sagt sie, » melde ich es.« Sie ist nicht seine direkte Vorgesetzte, aber sie ist Führungskraft und verfügt über eine Art Weisungsbefugnis gegenüber allen, die es nicht sind. Und sie will verdammt sein, wenn sie ihn das vergessen lässt.
» Und dann?«, mault er, obwohl er weiß, was sie meint.
» Das weißt du ganz genau«, sagt sie. » Du bist hier, um für Sicherheit zu sorgen, nicht, um dich schmieren zu lassen. Hier gibt’s Computer und Bargeld, Jason, und es ist dein Job zuzusehen, dass nichts davon gestohlen wird.«
» Sie ist mir nachgegangen«, sagt er beleidigt.
Sie wartet zwei Sekunden, bevor sie ihn durchdringend ansieht. » Komm mir bloß nicht so«, sagt sie. » Sollte ich je dahinterkommen, dass du diese Nummer noch mal abziehst, zeige ich dich an. Hast du mich verstanden?«
Er versucht, ihren Blick in gleicher Weise zu erwidern. Scheitert. Die Kunst, den Gegner anzustarren und aus dem Gleichgewicht zu bringen, hat Amber in der Jungendstrafanstalt
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