Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Funnland immer noch ein Stechuhr-System, damit Suzanne Oddie jederzeit weiß, ob sich irgendein Belegschaftsmitglied heimlich eingeschlichen hat, um sich, ohne Eintritt zu zahlen, ein bisschen zu amüsieren. Bis jetzt sind nur wenige Karten abgestempelt: Lediglich die des Rumpftrupps für den frühen Abend, der auf dem Gelände seine Runden dreht, Abfallkörbe leert und mit langen Zangen Müll aufsammelt. Für die Zangen hat Amber lange und hart kämpfen müssen. Davor war diese Arbeit deutlich beschwerlicher, weil man sich ständig bücken und wieder aufrichten musste, und die Fehlzeiten wegen Rückenschmerzen waren ein ernsthaftes Problem. Sie registriert, dass auch Jackie sich schon eingestempelt hat, und fragt sich, warum ausgerechnet ihre faulste Kollegin plötzlich so eifrig ist. Wieder beginnt sie, sich den Kopf zu zerbrechen, was sie wegen des Budgets unternehmen soll.
Scheiße, denkt sie. Ich werde nicht eine Minute Ruhe haben. Wenn ich nicht gerade daran denke, was heute Nachmittag passiert ist, grübele ich über die Finanzen nach. Ich sehe einfach keine Lösung. Soll ich allen die Stunden kürzen, damit keiner gehen muss? Herrgott noch mal, das wäre jedem gegenüber unfair.
Sie merkt, dass sie schon eine geschlagene Minute dasteht wie in Trance und die Tür ihres Spinds anglotzt. Der Sicherheitsbeamte lässt sie nicht aus den Augen, diesmal mit Neugier im Blick. Reiß dich zusammen, Amber. Los.
Ungehalten schüttelt sie den Kopf und geht hinaus in den Vergnügungspark.
Es hat aufgehört zu regnen und riecht nach Feuchtigkeit und Donuts. Durch das babylonische Sprachengewirr und das Gekreische, das von der Achterbahn herüberweht, hört Amber schwach die Brandung des Meers. Sie streift auf dem Gelände umher und bleibt, die drängende Menschenmenge nur halb zur Kenntnis nehmend, immer wieder stehen, um über ihre Optionen nachzudenken. Sie ist nun schon seit Jahren in Whitmouth, aber mit der berühmten Achterbahn ist sie noch nie gefahren. Als sie herkam, war sie zu arm, um sich den Eintritt leisten zu können, und in letzter Zeit hat sie sich so daran gewöhnt, dass sie ihre Existenz nur dann zur Kenntnis nimmt, wenn Kaugummi von den Sitzen zu kratzen ist.
Sie schüttelt den Kopf wie ein Pferd, das eine Fliege abwehrt. Noch ist keine Arbeitszeit. Sie verbietet sich, an die Arbeit zu denken, bis ihre Schicht beginnt. Die bestimmt ihren Alltag schon viel zu sehr, und heute war immerhin ein besonders schlimmer Tag für sie. Es war ein Fehler, mit Jade zu sprechen, in dem Glauben, dass sich alles klärt; das ist ihr jetzt klar. Sie stellt sich an der Warteschlange an.
Bei der Achterbahn arbeiten in der Regel Teenager und junge Leute Anfang zwanzig, die nur wegen ihres guten Aussehens eingestellt wurden. Die Bahn ist die Hauptattraktion des Vergnügungsparks, und das Paradestück sollte eben auch eine Paradebelegschaft haben. Sie sind sogar anders gekleidet als die übrigen Mitarbeiter: die reinsten Schmuckstücke in ihren wespengelben Bermudahosen und den hautengen, hellroten T-Shirts mit dem Achterbahn-Logo quer über der Brust: EXXPLODE ! Amber kennt sie natürlich alle. Zwei stammen aus ihrem Team, und eine, ein Mädchen namens Helen, wohnt vier Häuser weiter auf dem Tennyson Way und geht im Herbst auf die Uni nach Manchester und von da aus in die große weite Welt.
Helen steht gerade am Eingang. Sie öffnet die Mitarbeitersperre und lässt Amber durch. » Hallo, Mrs Gordon«, sagt sie. » Wie geht’s Ihnen?«
» Gut, danke«, lügt Amber.
» Ist irgendetwas passiert?«, erkundigt sich Helen mit höflicher Anteilnahme. Amber amüsiert sich immer darüber, dass dieses Mädchen mit Erwachsenen spricht, als wären sie Lehrer– und das in einer Zeit, in der sogar mit Lehrern kein Mensch mehr wie mit Lehrern spricht. » Müssen wir den Betrieb unterbrechen?«
» Nein, nein«, sagt Amber. » Nichts dergleichen. Mir ist nur grade aufgegangen, dass ich seit sechs Jahren hier arbeite und noch nie mit diesem Ding gefahren bin.«
» Nein?«, meint Helen und lacht. » Nein, wie ulkig! Ich fahre ungefähr sechs Mal am Tag, schon seit meiner ersten Woche hier.«
» Ja, natürlich. Aber ich bin meist nicht hier, wenn die Achterbahn in Betrieb ist.«
» Klar«, sagt Helen. » Das hab ich mir schon gedacht. Dann werden wir das jetzt mal schleunigst ändern.«
Sie deutet auf den vordersten Einstiegsbereich, wo vier Leute– die Sieger der Warteschlange– stolz auf den nächsten Wagen warten. » Stellen
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