Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Sie sich in die Reihe für Wagen eins, dann können Sie im übernächsten mitfahren.«
Amber zittert bei dem Gedanken, vorn zu sitzen. Sie würde sich wohler fühlen, wenn sich vor ihr ein paar Wagen statt ausschließlich die klare Luft befänden. Aber sie weiß, dass es eine Ehre für sie sein soll, und fügt sich. Als sie ihren Platz einnimmt, wird sie mit jenem unheilvoll schweigsam-prüfenden Blick bedacht, den sich die Briten für Vordrängler vorbehalten.
Der Wagen fährt ein, und die Anstehenden schließen die Reihen, als rechneten sie damit, dass sie sich auch hier noch hindurchschieben könnte. Amber tritt zurück, um ihren Blutdruck zu schonen, wendet sich ab und blickt über den Vergnügungspark.
Jenseits des Gedränges öffnet sich das Personaltor, und ein Menschenknäuel tritt hindurch. Sie erkennt, dass Suzanne Oddie darunter ist, und sieht, dass sie von Dunkelblau und Sicherheitsgelb umringt ist, was nur Polizeiuniformen sein können. Sie denkt sich nichts weiter dabei. Seit dem Mord befand sich ständig Polizei innerhalb und außerhalb des Vergnügungsparks, und selbst zu ruhigen Zeiten ist immer ein einzelner Polizist auf dem Gelände unterwegs. Sie rückt zum Einstieg vor, als ein neuer Pulk Fahrgäste aus der Hauptschlange durchgelassen wird, und sieht in ein Meer enttäuschter Gesichter, als man sie dort stehen sieht. Fast nie ist nur ein Sitz pro Reihe besetzt. Die Leute fahren lieber paarweise: Zu zweit ist man mutiger.
Was Jade wohl gerade macht?, fragt sie sich. Ob sie nach unserer kleinen Teestunde genauso verstört ist wie ich? Mein Gott, ich hatte ja keine Ahnung. Die ganze Zeit habe ich gedacht, es ginge ihr wie mir: Die Angst wäre ihr ständiger Begleiter, sie wäre von Scham zerfressen, würde das Unglück meiden und hielte den Kopf stets gesenkt. Und jetzt weiß ich, dass für sie alles anders gelaufen ist, daswerde ich nie vergessen können. Ich habe den Geist aus der Flasche gelassen. Er wird nicht mehr dahin zurückkehren.
Das ist nicht fair. Es ist verdammt noch mal nicht fair.
Über ihren Kopf donnert ein Wagen hinweg, und der veränderte Luftdruck lässt ihre Haut kribbeln. Die Bahn wurde absichtlich so konstruiert, dass die Schreie von oben den Adrenalinspiegel der Wartenden steigen lassen. Bei drei Wagenreihen auf dem Parcours bekommt man das zwei Mal zu hören, während man in der Schlange steht, und was immer einem der Verstand sagt: Sobald die Sicherheitsbügel einrasten, wittert man automatisch Gefahr. Amber, die daran gewöhnt ist, im Dunkeln auf das Geräusch näher kommender Schritte zu lauschen, und die niemals Aufmerksamkeit erregen will, findet dieses Geräusch beunruhigend. Am liebsten würde sie die Flucht ergreifen. Zu spät: Ihr Wagen kommt scheppernd zum Halten, und die Fahrgäste hinter ihr drängen hinein. Während die Besucher vor ihnen auf die gegenüberliegende Rampe aussteigen, klettert sie mit weichen Knien in das Gefährt und setzt sich.
Scheiße, was mache ich denn hier?, fragt sie sich. Das ist absolut behämmert, einfach bescheuert. Eher eine Strafe als ein Vergnügen. Aber vielleicht mach ich’s ja genau deswegen. Ich war böse, also bestrafe ich mich selbst. Wie ich es gelernt habe. Immerhin hoffte man an einem Ort wie Blackdown Hills für uns nur das eine: dass wir unsere Schuld zugaben und unsere Strafe annahmen. Der Sicherheitsbügel fährt herunter und rastet ein. Arretiert. Die Leute neben ihr holen Luft, lachen und werfen sich erwartungsvolle Blicke zu. Amber umfasst die gepolsterten Schulterholme und schließt die Augen. Schluckt. Ich hasse das. Das ist der wahre Grund, warum ich es nie mache. Jede andere Begründung ist nur eine Ausflucht. Immer wieder hatte ich in meinem Leben das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Das freiwillig zu tun kann doch unmöglich Spaß machen.
» Festhalten, es geht los«, brüllt die automatische Ansage, und der Wagon setzt sich in Bewegung. Ach du Scheiße, denkt Amber. Jetzt kann ich es nicht mehr aufhalten!
Sie erinnert sich an ihre erste Nacht in Blackdown Hills. Immer noch schreiend nach dem Urteilsspruch, längst heiser, aber ihre Stimme macht unaufgefordert einfach weiter. Die lauwarme Dusche, das Brennen medizinischer Seife, die leere, bleierne Dunkelheit. Meine Mutter. Sie war nicht mal im Gericht. Sie hassen mich. Sie schämen sich meiner. Sie denkt an die schwarze Nacht draußen vor den Gitterfenstern, die plötzliche, auffallende Stille, als sie verspätet, mutlos und ängstlich zum ersten
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