Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Er sollte eigentlich beim Autoscooter sein. Können Sie ihn uns zeigen?«
Aufs Neue hat Amber das Gefühl, ins Bodenlose zu stürzen.
15 UHR 30
Jade kriecht durch das Loch in der Hecke und landet an einer Stelle voller Brennnesseln. Flucht lauthals, weil sie weiß, dass Chloe ganz bestimmt hineinfallen wird, sosehr sie sich auch bemüht, sie niederzutrampeln. Allmählich fängt sie an, dieses Kind wirklich zu hassen. Sie verletzt sich andauernd. Und jedes Mal, wenn sie hinfällt, geht dieses Gekreische los: genauso nervtötend und durchdringend wie eine Polizeisirene, und es hallt in ihrem Kopf wider wie der Bohrer beim Zahnarzt. Und gleich sind es die Brennnesseln.
» Ich hab dir gleich gesagt, wir gehen besser über die Straße«, knurrt sie wütend.
» Nein, hast du nicht«, schnauzt Bel. » Du hast behauptet, hier entlang ginge es schneller. Und ich habe gefragt , ob es einen Weg gibt.«
Es sind die Hundstage dieses Sommers, und der Boden ist steinhart. Sie sind alle drei zerschrammt und verkratzt, vom Hinfallen und der Kletterei und den Brombeersträuchern, und jetzt bilden sich auf Jades Händen und Knien da, wo sie durch die Brennnesseln gekrochen ist, weiße, nässende Pusteln. Ihr Mund ist wie ausgedörrt; sie spürt förmlich, wie ihr die Trockenheit die Kehle hinunterkriecht, und hat das Gefühl, ihre Lider wären auf der Innenseite mit Sandpapier gefüttert. Ihre Wut nimmt zu. Sie wird immer wütender – genau wie Bel. Sie kochen vor Hitze und Groll.
» Komm schon«, schnauzt sie zurück. » Pass auf. Da sind Brennnesseln.«
Bel schubst Chloe weiter. Im Verlauf der letzten Stunde haben sie herausgefunden, dass sie am besten immer in der Mitte geht. Um voranzugehen, ist sie zu klein und zu dumm, und wenn sie beide vorausgehen, bleibt sie zurück, und jemand muss wieder zurückkriechen oder -klettern oder sich quetschen, um sie zu holen. Ich werde nie Kinder bekommen, denkt Bel. Nicht, wenn die Möglichkeit besteht, dass sie so werden wie das da. Sie sieht in das puterrote Gesicht – Schmutzschlieren auf den Wangen und das Kinn eine einzige schwammige Ansammlung von Tränen –, und eine Woge der Verachtung überkommt sie. Das Kind erinnert sie an Miranda – die verzogene, nutzlose, bevorzugte Miranda –, und die Verachtung verwandelt sich in Wut. Immer geben sie mir die Schuld. Jedes Mal, wenn was schiefläuft, beschuldigen sie mich. Das ist nicht fair.
» Sei nicht so ein Jammerlappen«, sagt sie. » Geh weiter.«
Irgendwo beim Proctor’s Pond hat Chloe einen Schuh im Matsch verloren, und ihr weißes Söckchen starrt vor Dreck. Sie geht in die Hocke, betrachtet das Loch in der Hecke und fängt wieder an zu wimmern. Dann beginnt sie, auf allen vieren langsam hindurchzukrabbeln. Lieber Himmel, denkt Bel, die hat ja einen Hintern wie ein Elefant. Wie kann ein so kleines Kind so einen Riesenhintern haben?
Sie versetzt dem Hintern probeweise einen Tritt mit dem Fuß. Chloe schießt durch die Öffnung wie ein Champagnerkorken und landet bäuchlings, Gesicht voran, in den Brennnesseln. Einen Moment lang bleibt es still, bis sie ihre Situation begriffen hat, dann geht das Geheul wieder los. » Waaaaa. Waaaaaaaaaaaaaa. Wah-oooooooooooow!«
Jade hält sich die Ohren zu. Das halt ich nicht aus. Wieso hat der noch nie jemand einen Knebel verpasst?
» Halt den Rand! Sei still! Hör auf!«
Chloes Gesicht, Hände und Oberschenkel sind mit Quaddeln übersät. Sie starrt ihre Handflächen an und beginnt zu schreien. Das muss man ja bis Banbury hören. Jade hat das Gefühl, dass ihr gleich das Trommelfell platzt. Sie packt das Kind am Arm und zerrt es hoch. » Sei endlich still!«, kreischt sie. » Oder ich geb dir einen echten Grund zum Heulen!«
Jade ist die Jüngste in der Familie. Hat viele Stunden in der Obhut gereizter älterer Geschwister verbracht und nie selbst auf ein jüngeres aufgepasst. Und macht, was Tamara und Steph und Gary viele Male auch mit ihr gemacht haben: Sie gibt ihr eine Backpfeife.
Chloe verstummt auf der Stelle.
» Ich verpass dir einen verdammten Knebel, wenn du noch mal anfängst«, droht Jade. Sie versteht nicht wirklich, warum sie so eine Wut hat. Weiß nichts von Dehydrierung und Überhitzung und Blutzucker. Sondern nur, dass Chloe eine Last ist, um die sie nie gebeten und die sie nicht gewollt hat. » Wir suchen eine paar Ampferblätter«, sagt sie zu ihr. » Damit kriegt man das wieder hin.«
» Ich will heim!«, heult Chloe. » Ich will zu meiner Mami!«
Bel
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