Im Schatten der Mitternachtssonne
von York hinter ihnen lag.
Das sanfte Schwanken des Bootes brachte Zarabeth zu vollem Bewußtsein. Ihr wäre lieber gewesen, die Nacht hätte angedauert, denn die Dunkelheit bot ihr so etwas wie Geborgenheit.
Als der Wind in das mächtige Segel fuhr, schoß das Boot vorwärts, begleitet vom Jubel der Männer. Nun wurden die Ruder eingezogen, und jeder ging seiner gewohnten Arbeit nach. Zarabeths Magen knurrte. Sie wandte sich an Lotti, nahm ihr kleines Gesicht in die Hände und fragte leise: »Hast du Hunger, mein Liebes?«
Die Kleine machte ein fragendes Gesicht, und Zarabeth wiederholte ihre Worte langsam und machte dabei die Handbewegung des Essens. Lotti nickte eifrig und rieb sich den Bauch. Zarabeth tätschelte ihre Schulter und sagte mehr zu sich selbst: »Ich seh mal nach, ob noch etwas von dem Eintopf übrig ist, den Magnus mir gestern gebracht hat.«
Sie erhob sich und schlug die Otterfelle zurück. Einer nach dem andern starrten die Männer sie an. Magnus beugte sich zu Horkel am Steuerruder. Dann hob er den Kopf und sah sie. Mit Unmut im Blick kam er auf der Holzplanke in der Mitte des Bootes mit raschen Schritten auf sie zu, bückte sich unter dem geblähten Segel hindurch.
»Was willst du?« rief er laut, dennoch hatte sie Mühe, ihn zu verstehen, da der Wind in das flatternde Segel schlug.
Sie wartete, bis er bei ihr war. »Lotti hat Hunger. Hast du etwas zu essen für sie?«
Magnus hatte eine Bitte für ihr eigenes Wohlergehen erwartet, obwohl er seit gestern wissen mußte, daß ihre einzige Sorge ihrer kleinen Schwester galt. Hatte sie denn keinen Hunger, verdammt noch mal? »Verschwinde wieder in deinen Verschlag. Horkel bringt euch beiden Essen.«
Zarabeth nickte und wandte sich zum Gehen. Magnus hielt ihren Arm fest.
»Und komm nicht wieder heraus. Auch wenn du aussiehst wie eine zerlumpte Hexe, sind meine Männer hungrig nach Weibern, wenn sie von zu Hause fort sind. Wenn dir deine Weiblichkeit lieb ist, dann bleib da drin.« Nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Ich binde die Felle zurück, dann bekommst du da drin etwas frische Luft und Helligkeit.«
Zarabeth nickte wieder. Bevor sie unter der Abdeckung verschwand, warf sie einen Blick aufs Meer. Der Wind wehte ihr das Haar ums Gesicht, und sie schmeckte das salzige Meerwasser auf der Zunge. Es wurde kühler, und sie schlang die Arme um ihren Leib. Die Wellen schwappten laut gegen den Bootsrumpf. In der Ferne konnte sie einen Küstenstreifen erkennen.
Sie ging zurück in den Frachtraum. Es dauerte nicht lang, bis Magnus wiederkam. Nicht Horkel. Er trug zwei Holzschalen mit dampfendem Eintopf. Er brachte auch Brot, weiches, frisches Brot, eingehüllt in ein grobes Wolltuch.
»Solches Essen gibt es nicht mehr lang. In fünf Tagen erreichen wir Hedeby, die große Handelsstadt in Dänemark. Dort habe ich einige Geschäfte zu erledigen, bevor wir nach Norden nach Kaupang im Oslofjord segeln.«
Er ist freundlich, dachte Zarabeth verwirrt. Ob er allmählich zur Einsicht kam, daß sie die Wahrheit gesagt hatte? Daß sie nicht gelogen hatte, als sie ihm ihre Zuneigung versicherte? Doch seine nächsten Worte belehrten sie eines Besseren.
»Und du machst meinen Männern keine schönen Augen. Sie nehmen, was ihnen geboten wird, und zum
Dank bekommst du ihre Verachtung. Sie sind mir ergeben. Du bist nur eine Sklavin, die man benutzt. Und das werde ich heute nacht tun. Du müßtest baden, aber das ist mir egal. Mach dich für mich bereit, Zarabeth. Denn ich komme zu dir, wenn es Nacht ist und meine Männer schlafen.« Noch während er sprach, bemerkte Magnus, daß Lotti ihn anstarrte, den Holzlöffel in der Hand haltend. Er hatte das Kind ganz vergessen; kam sich wie ein Narr vor. Schlimmer, er kam sich vor wie ein Mann, der in den Krieg zog, aber seine Waffe vergessen hat; wie ein nackter Mann im Schneesturm. Er bedachte Zarabeth mit einem rachsüchtigen Blick, drehte auf dem Absatz um und ging.
Zarabeth konnte nicht lachen. Sie gab Lotti in Zeichensprache zu verstehen, weiter zu essen. Sie selbst war nicht mehr hungrig. Die frische Seebrise sorgte wenigstens für bessere Luft in dem stickig engen Verschlag.
Die Zeit kroch dahin. Es wurde Nacht und wieder Tag. Die Sonne brannte vom Himmel, und sie wunderte sich, wie die Männer es in der sengenden Hitze aushielten. Sie spielte mit Lotti, lehrte sie Worte, die sie ihr immer wieder vorsagte und die entsprechenden Zeichen dazu machte.
Und sie dachte an Magnus, auch wenn sie ihn nicht sehen
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