Im Schatten der Mitternachtssonne
nun aus ihr werden? Die Frau war schön, das sah sie bereits aus der Ferne. Dieses volle, rote Haar. Sie spürte, wie Cyra sich neben ihr anspannte. Und Ingunn frohlockte. Nie wieder würde sie sich über deren Hinterhältigkeit ärgern. Nie wieder würde Cyra sie bei ihrem Bruder anschwärzen.
Ingunn verschlang die Hände. Bang sah sie der Begegnung mit der neuen Gemahlin ihres Bruders entgegen. Neben ihr stand sein Sohn Egill und hielt schützend die Hand vor Augen.
»Neben der fremden Frau geht ein Kind«, sagte er und deutete mit dem Finger auf die Ankömmlinge. »Die Frau hält ein kleines Mädchen an der Hand.«
Ingunn erschrak. Hatte er etwa eine Witwe geheiratet?
»Sie hat komische Haare«, fügte Egill hinzu. »Röter als die rote Farbe in Großmutters Wandbehängen. Ich möchte es anfassen.«
Ingunn wünschte, er würde den Mund halten. Die Gruppe kam näher. Magnus lächelte, und Ingunn lief ihm zur Begrüßung entgegen. Er umarmte sie kurz und begrüßte seinen Sohn.
»Egill«, rief er und hob den Jungen hoch in seine Arme, setzte ihn aber gleich wieder auf die Erde und versetzte ihm einen spielerischen Rippenstoß. »Du hast mir gefehlt, Junge. Du bist größer geworden, seit ich euch vor einem Monat verlassen habe. Warst du ein guter Herr in meiner Abwesenheit?«
Egill nickte ernsthaft. »Wer ist die Frau, Vater? Ist sie deine neue Frau? Ist das kleine Mädchen ihre Tochter?«
»Nein, sie ist nicht meine Frau. Nun lauf und hilf den Männern, die neuen Waren heraufzutragen.« Der Junge entfernte sich und rannte den Weg zum Strand hinunter.
Magnus blickte in die Runde. »Wo ist Cyra?«
»Sie wartet am Tor.«
Jetzt kam die rothaarige Frau heran und blieb in einiger Entfernung hinter Magnus stehen. »Cyra, komm zu mir!« rief Magnus.
Ingunn bekam große Augen. Die Rothaarige zeigte keine Regung. Ihr Gesicht blieb ohne Ausdruck. Cyra rannte in Magnus' offene Arme. Er hob sie hoch und schloß sie innig in die Arme. Dann beugte er sich über sie und küßte sie lang und begehrlich. »Geht es dir gut?«
Cyra nickte selig. Ihre Finger berührten seine sonnengebräunte Wange. »Ja, es geht mir gut. Ich hatte gefürchtet, du willst mich vielleicht nicht mehr, doch jetzt ist alles wieder gut.«
In diesem Augenblick fuhr eine Windbö in Zarabeths Haare, wehte sie nach hinten und gab ihren Hals frei. Ingunn sah das Sklavenhalsband aus Eisen um den Hals der Frau geschmiedet. Keiner von Magnus Sklaven trug ein Sklavenband.
Kein einziger, nur diese Frau.
Sie platzte heraus: »Ist diese Frau deine Sklavin? Ist sie nicht deine Gemahlin?«
Magnus lachte — zu laut, zu bitter. »Nein, ich heirate nicht wieder. Das ist Zarabeth, meine Sklavin. Das kleine Mädchen ist ihre Schwester Lotti. Sei nett zu ihr Ingunn, denn sie kann nicht hören.«
Eine Sklavin. Nichts als eine Sklavin! Ingunn starrte sie an. Das Gesicht der Frau war bleich, ihr Ausdruck gelassen. Langsam begann Ingunn zu lächeln. Sie würde der Frau zeigen, wofür eine Sklavin da war. Die da stand nicht in seiner Gunst wie Cyra. Magnus würde sich nicht einmischen. Und das kleine Mädchen, das sich an den Schenkel ihrer großen Schwester drückte, hatte eine komische Augenfarbe, goldenschimmernd. Das Kind hörte nichts? Es lohnte nicht, eine solche Mißgeburt durchzufüttern. Sie nickte der Fremden knapp zu und trat einen Schritt zurück, um auf Anweisungen ihres Bruders zu warten.
Er wandte sich an die Fremde und sagte scharf: »Steh nicht herum und halte Maulaffen feil. Bring Lotti zum Langhaus. Das große Haus dort drüben in der Mitte.«
Zarabeth war überwältigt von der Größe des Gutshofs, als sie durch das Holztor schritt. Ein ganzes Dorf, umschlossen von einem schützenden hohen Holzzaun. Es gab viele Holzhütten, andere waren aus Lehm gebaut, alle hatten strohgedeckte Dächer. Das Langhaus hatte nur wenige, winzige Fenster, die mit getrockneten Tierhäuten bespannt waren. In der Mitte stieg Rauch aus dem spitzen, langgezogenen Dach. Magnus war neben sie getreten und sagte nun: »Hier ist die Werkstatt des Waffenschmieds. Er heißt Rollo und schmiedet unsere Waffen, er macht auch Geräte für den Ackerbau, Töpfe und Pfannen. Neben dem Langhaus ist der Kuhstall. In dem niedrigen Stall daneben sind die Schafe untergebracht. Die Hütte der Sklaven steht dort drüben.« Er machte eine Pause, um auf ihre Reaktion zu warten. Doch die blieb aus. Sie blickte ausdruckslos auf die ärmliche Lehmhütte. »Draußen vor dem Palisadenzaun
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