Im Schatten der Mitternachtssonne
du dich nicht in ein heißes Bad? Es wird dir guttun.«
Ich trage an allem die Schuld, brannte es Zarabeth auf der Zunge, hinauszuschreien. Ich war diejenige, die sie fortgetragen hat, ich habe sie ins Boot gesetzt. Ich habe sie getötet.
Doch sie schwieg. Hätte sie die Worte laut ausgesprochen, hätten sie sich für immer in ihre Seele gebrannt, und sie wußte, daß sie nicht stark genug war, das zu ertragen.
Nachdem sie gebadet hatte, das Haar gekämmt und zu einem Zopf geflochten und ein sauberes Kleid angezogen hatte, stand sie da und war zu keiner Bewegung fähig. Sie sah ihre kleine Schwester in den Tiefen des Meeres, von Seetang umschlungen, ihr feines Haar in der Strömung treibend. Und Lotti war still, ganz still . . .
Sie bemerkte ihre Tränen erst, als sie das Salz auf ihren Lippen schmeckte. Sie rannte zum Langhaus, rannte in Magnus' Kammer, setzte sich aufs Bett und weinte. Niemand kam, um sie zu trösten.
Sie wußte nicht, daß es so viele Tränen gab, die sie erstickten, ihre Kehle entzündeten, ihre Augen röteten. Sie flüsterte: »Lotti, es tut mir so leid. Mein Gott, vergib mir. Es war meine Schuld.«
Die Männer kehrten erst gegen Mitternacht zurück. Das Dämmerlicht der hellen Mittsommernacht tauchte die Landschaft in einen fahlen Schein, der Zarabeth noch immer in Erstaunen versetzte. Sie stand vor dem Palisadenzaun, den Blick auf das Wasser gerichtet. Irgendwo dort draußen lag Lotti auf dem Grund des Meeres in ihrem nassen Grab. Wenn sie wenigstens in einem Sarg in kühler Erde läge, friedlich schlafend.
Sie rieb sich die nackten Arme, der Nachtwind hatte Feuchtigkeit vom Meer her gebracht.
Die Männer kamen hintereinander in einer langen Linie den Pfad herauf. Sie hatten Egill nicht gefunden. Ihre Augen suchten Magnus, ihren neuen Ehemann. Er wirkte niedergeschlagen und erschöpft. In ihrer Seele nagte der Schmerz. Beide Kinder waren für immer verloren, eines war dem anderen gefolgt, und am Tod beider trug sie die Schuld.
Wieder flossen ihre Tränen.
Magnus sah sie an der Umzäunung stehen, reglos, ihren Blick ihm zugewandt, das Gesicht tränenüberströmt. Er schüttelte nur den Kopf und sah auf sie hinunter. Seine Fingerspitzen berührten ihre nasse Wange. Langsam zog er sie in seine Arme und legte ihren Kopf an seine Schulter.
»Wir haben ihn nicht gefunden, keine Spur von ihm. Das heißt, er könnte noch am Leben sein.«
Zarabeth hob das Gesicht. »Dann könnte Lotti auch noch am Leben sein.«
Magnus hörte die Unehrlichkeit seiner Worte, aber sie hielten ihn aufrecht. Sie waren alles, womit er seine Trauer bezwingen konnte.
»Ja, das wäre möglich«, hörte er sich sagen. Aber er wußte, daß es nicht stimmte. Lotti war ertrunken. Ihre Leiche war entweder von der Strömung in den Oslofjord getrieben worden, oder sie hing immer noch im dichten Seegras gefangen. Auch sein Sohn war tot. Er hatte ihn nur noch nicht gefunden. Warum war der Junge verschwunden? War er weggelaufen, aus Furcht, wegen Lottis Tod bestraft zu werden? Wo mochte er sein? Die vielen Möglichkeiten peinigten ihn. Vielleicht war er von einem wilden Tier zerfleischt oder verschleppt worden. Oder Banditen hatten ihn gefangen, die das Kind folterten. Möglicherweise verlangten sie Lösegeld für ihn ... Oder aber ... so ging es weiter, unaufhörlich. Magnus mußte seinen Gedanken Einhalt gebieten.
Er löste sich von seiner Frau.
»Wir sind jetzt so vereint, wie wir von Anfang an vereint sein sollten. Was auch geschehen ist, wir können es nicht ändern. Wir müssen es ertragen und uns damit abfinden.«
Das ist sehr schwer, Magnus.«
»Ja, ich weiß.« Wieder berührten seine Fingerspitzen ihre Wangen, wischten die Tränen fort und glitten über ihre Augenbrauen.
»Ich kann nicht aufhören zu weinen.«
Die Männer waren mit schweren, müden Schritten ins Langhaus gegangen. Einige aßen, andere legten sich sogleich hin und schliefen erschöpft ein.
»Jetzt bin ich wieder da, und ich werde dich im Arm halten, wenn du weinst.«
Und wer wird dich im Arm halten, fragte sie sich, denn dich sieht niemand, wenn du weinst.
Magnus Familie blieb noch zwei Tage, die Männer suchten jeden Tag stundenlang nach Egill. Niemand sprach davon, die Suche aufzugeben, aber es gab nirgends ein Zeichen, nicht die geringste Spur von dem Jungen. Er blieb verschwunden.
Helgi unterwies Zarabeth in Aufgaben der Haushaltsführung, die sie in York nicht gelernt hatte, gab knappe, sachliche Anweisungen, wurde aber nie
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