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Im Schatten der Tosca

Im Schatten der Tosca

Titel: Im Schatten der Tosca Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Kaiser
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selten aufgeführt, weil die meisten Sopranistinnen Angst haben, von der Giovanna Seymour an die Wand gespielt zu werden«, hatte Mariana einmal spöttisch gesagt.
    Nun gut, solche Herausforderungen machten Elia inzwischen Spaß, zumal die Partie der Anna Bolena aufregende Nuancen musikdramatischer Charakterisierungskunst bot. Sicherlich war sie die vielschichtigste Figur des Stückes. Von Anfang an umgab sie die Bedrohung, ein Opfer zu werden – das für eine Schuld sterben sollte, die es nicht begangen hatte. Aber nicht als unschuldiges Opferlamm, sondern schuldigunschuldig. Denn einst hatte sie Verrat begangen an ihrer ersten Liebe, aus Ehrgeiz, geblendet vom Glanz der Krone.
    Eine Sängerin konnte hier wirklich alle Register ziehen, inniglich zarte Trauer, Wehmut, Resignation, flackernde Unruhe, Flehen, Stolz, Angst, Verzweiflung, Wahn. Alles ergab sich von selbst, sie musste nur der seismographisch charakterisierenden Gesangslinie folgen, noch die aberwitzigsten Triller und Sprünge waren psychologisch hauchfein schattierende Verdeutlichungen. Donizetti und sein Librettist hatten für alles gesorgt – ob es eine Sängerin überzeugend zu gestalten vermochte, stand auf einem anderen Blatt.
    Auch die Eigenschaften und Stimmungen der anderen Personen waren sorgfältig charakterisiert: Enricos Gier, seine Brutalität, sein Jähzorn, Giovannas leidenschaftlicher Ehrgeiz, untermischt mit schlechtem Gewissen, die lyrische Schwärmereider Anbeter Annas, die sie in ihrem ichbezogenen Liebeseifer in den Untergang rissen. Welch eine Spannung, wenn diese Personen aufeinandertrafen, in immer neuen Formationen, in Duetten, einem träumerischen Terzett, einem erregten Quintett und einem panischen, immer rasenderen Sextett im Finale des ersten Aktes, wo es dem gnadenlos furchtbaren König schließlich vor Wut buchstäblich die Sprache verschlug, so dass er nur noch zornbebend und stumm auf der Bühne stand, während die anderen Figuren vor Angst und Entsetzen außer sich gerieten.
    Elia hatte das ganze letzte Jahr nur wohlvertraute Rollen gesungen, jetzt genoss sie es, wieder etwas Neues und darüber hinaus sehr Anspruchsvolles für sich zu erobern. Jens Arne Holsteen hatte sie wieder mit dem Rolls-Royce vom Flugplatz abholen lassen und dann, zusammen mit dem Intendanten, die Protagonisten zu einem Abendessen in ein italienisches Lokal eingeladen. Möglicherweise war das eine Reverenz an Elia, der einzigen Italienerin in der Runde, im Übrigen gab sich Jens Arne als weltläufiger Gastgeber, höflich, aufmerksam gegen alle, entzückt, mit einem so hervorragenden Team an die große Aufgabe herangehen zu können. Die Sänger des Enrico und des Percy kannte Elia bereits, mit Nora Petersson, ihrem Stockholmer Romeo und der Londoner Amneris war sie nahezu befreundet. Gute Voraussetzungen also, die sich vom ersten Probentag an bestätigen sollten.
    Elia hatte ihre Partie zusammen mit Signor Ruteli gewissenhaft einstudiert und auch mit Mariana viel gesungen und besprochen. Jetzt war sie glücklich, gleich bei den ersten beiden Ensembleproben zu erleben, dass ihre und Jens Arnes Auffassungen in weiten Teilen übereinstimmten und auch von den anderen Sängern keine unerwarteten Schwierigkeiten zu drohen schienen.
    Nach diesem ersten Durchlauf des Stückes, den Jens Arne vom Klavier aus geleitet hatte, überließ er das Feld dem Regisseur, blieb aber bei den szenischen Proben erst einmal anwesend,so dass von Anfang an die musikalischen und szenischen Vorstellungen aufeinander abgestimmt werden konnten.
    Über den Proben, die Elias volle Konzentration erforderten, verblassten die Stockholmer Wirrnisse erstaunlich rasch, einmal mehr bewährte sich die Arbeit als gutes Nervenheilmittel. Der Regisseur Keith Nurmit erwies sich als weiterer Glücksfall. Er war bekannt für seine ausgetüftelten Schauspielinszenierungen und verlangte auch von den Sängern ein psychologisch genau aufeinander abgestimmtes Spiel. Jeder Blick, jede Geste stand im logischen Zusammenhang mit dem Ablauf des Geschehens, doch nicht vordergründig nur als Untermalung, manchmal verrieten die Figuren damit auch ihre geheimen Gedanken oder ihre ins Unterbewusstsein weggesteckten Gefühle. Der von Donizetti und Felice Roman kunstvoll gewirkte Stoff gewann dadurch noch an geheimnisvoller Dichte.
    Eine faszinierende, aber auch anstrengende Vorgehensweise, nach den Proben war man rechtschaffen müde. Viel von der brodelnden Weltstadt London bekam man nicht mit, allenfalls

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