Im Schatten der Tosca
reichte die freie Zeit dazu, sich in noblen Geschäften unnötige, viel zu teure Dinge aufschwätzen zu lassen oder bei Harrods herumzuirren und bei Fortnum und Mason Tee einzukaufen.
Jens Arne musste sofort nach den szenischen Proben zum Royal Philharmonic Orchestra eilen, um dort für ein Pariser Gastspiel sein Mammutprogramm zu probieren, Brahms pur, sämtliche Symphonien, die Haydn-Variationen, das Violinkonzert. Du lieber Himmel, hatte dieser Mann eine Energie in sich stecken, er war sicher weit über sechzig und doch hundertmal zäher als seine jungen Assistenten! Als er schließlich zu seinem Gastspiel verschwand, trat für die Zurückbleibenden eine kleine Verschnaufpause ein. Es war auch einmal ganz angenehm, weiterprobieren zu können, ohne dass der Maestro mit Argusohren lauschte. Andererseits konnten sich die Sänger glücklich preisen, dass er sich nicht erst in den letzten zwei Wochen um sie kümmerte und dann in Windeseile dasmühsam erarbeitete Konzept durcheinanderwirbelte, so wie es inzwischen immer häufiger passierte.
Kaum aus Paris zurück, setzte Jens Arne für die Sänger zusätzliche Einzelproben an, allen voran für Elia, hatte sie doch die heikelste Rolle in diesem Stück inne, in dem der gesamte Schluss, ungefähr zwanzig Minuten, allein von der Titelpartie bestritten wurde. Alle anderen auftretenden Personen samt Chor reagierten und kommentierten nur noch.
Im heftigen Wechsel der Stimmungen spiegelte sich Anna Bolenas ganzes Wesen noch einmal wider. »Wahnsinn vom Feinsten«, sagte Jens Arne. »Annas Verwirrung drückt sich hauptsächlich in den empfindsamen, göttlich zarten Passagen aus, da ist sie ›entrückt‹, in einer anderen Welt, in der Kindheit, der ersten Liebe, schon fast im Himmel. Dagegen sind viele der wilden, rasenden Aufschreie durchaus real begründet durch die brutalen, lebensbedrohenden Einbrüche der Wirklichkeit, die sie wieder zu sich bringen. Das ist das Besondere, das Erschütternde daran, das müssen wir zeigen.«
Er ließ nicht locker, er feilte und wiederholte, bei den alternativen Ausdruckskoloraturen wählte er stets die kunstvollere Version. Er trieb Elia an, bis sie selbst dem Wahnsinn nahe war, zumindest den Tränen. Außer Georges Goldberg hatte sie noch kein anderer Dirigent so geschunden! Am Ende war Elia tatsächlich in Schweiß gebadet und selbst der überkorrekte Maestro leicht echauffiert. Aber auch sehr zufrieden: »Jetzt haben wir die Szene so, wie sie sein soll. Ich malträtiere Sie ja nur, weil Sie es können, weil nur Sie es so können! Jetzt ist das keine Virtuosennummer mehr, wie bei fast allen anderen Sängerinnen, sondern eine Tragödie.«
Nach der Generalprobe klopfte Jens Arne Elia auf die Schulter: »Mariana wird zur Premiere kommen. Es war etwas mühsam, aber ich habe sie rumgekriegt. Sie traut mir immer noch nicht über den Weg, wenn es um Sie geht, liebe Elia. Da ist es am besten, sie überzeugt sich selbst.«
Seine Stimme klang etwas maliziös, und Elia wurde vorÜberraschung ganz rot, woher wusste er von Marianas Bedenken? Aber sie nahm sich zusammen und jubelte: »Ach, was für eine wunderbare Überraschung!«
Jens Arnes Konzept ging auf: Mariana hatte selbst jahrelang mit Carla Maniatis, der damals gefeiertsten Anna Bolena, auf der Bühne gestanden, niemand konnte die Qualität der Londoner Aufführung besser ermessen als sie. Und so streckte sie die Waffen. Nach dem letzten Vorhang der Premiere umarmte sie erst einmal Elia und beglückwünschte dann Jens Arne: »Gratulation, verehrtester Maestro! Elia ist für mich wie ein Smaragd, und Sie haben ihn in neuem Licht zum Leuchten gebracht! Und ihm dabei seine Eigenart belassen, seinen eigenwilligen Schliff. Das ist für mich das Ausschlaggebende. Jetzt bin ich sehr viel beruhigter! Ich hab immer Sorge, dass da eines Tages doch noch jemand herumpfuscht, Smaragde sind zwar hart, aber auch empfindlich. Aber wem sag ich das, wir sind ja ganz offensichtlich derselben Meinung, nicht wahr?«
»Wenn ich diesem Edelstein jemals Schaden zufügen sollte, dann strafe mich Gott«, rief Jens Arne pathetisch. Ausnahmsweise ging er mit zur Premierenfeier. Er hofierte Mariana. Aufgekratzt und charmant, wie ihn Elia noch nie erlebt hatte, schwärmte er von den gemeinsamen Göteborger Anfängen, herrliche Zeiten mussten das gewesen sein und Mariana und er die innigsten Freunde. Mariana spielte vergnügt mit, Jens Arnes Schmeicheleien machten ihr Spaß – aber sie ließ sich nicht von ihm
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