Im Schatten der Tosca
ehrfurchtsvoll.
Sehr viel mehr als das Opernhaus bekam sie in der ersten Woche nicht zu sehen. Vom Ehrgeiz besessen, ein makelloses Französisch zu singen, übte sie mit einem Korrepetitor, bis ihr der Kopf rauchte, noch im Einschlafen murmelte sie:
»L’amour est enfant de Bohème – enfant – enfin . . .« ,
diese Nasale sollte der Teufel holen.
Über ihrem Bett, an einer hässlichen Streifentapete, hing eine Lithografie, darauf räkelte sich eine üppige, halbnackte Schöne. Nach ein paar Tagen nahm Mariana das Bild von der Wand. »Sonst muss ich irgendwann kotzen«, hatte sie das Gefühl. Regel Nummer eins für reisende Künstlerinnen: Nimm einen Zaubergegenstand mit aus der eigenen Wohnung und banne damit die Hässlichkeit deines Hotelzimmers. Sehnsüchtig dachte sie an ihr Seestück.
Doch schon bald sollte sie auf andere Weise wieder an die Heimat denken. Die russische Kolonie hatte nämlich Wind von ihrer Anwesenheit bekommen, plötzlich war sie umringt von Vettern und Basen, Onkelchen und Tantchen samt Anhang. Fortan gestaltete sich ihr Aufenthalt in Paris sehr viel lustiger, ständig wurde sie eingeladen, die russisch-chaotische Herzlichkeit riss Mariana mit, sie musste bei diesen Nachteulen nur aufpassen, dass sie früh genug zum Schlafen kam.
Zweimal war sie allein in die Oper gegangen, in die beiden Publikumsrenner dieser Saison. ›Les Indes Galantes‹ von Rameau und ›Aida‹. Beide Male war sie enttäuscht. Was für ein Riesenaufwand mit plüschigem Pomp in Pappkulissen, endlosen Balletteinlagen, Theaterdonner. Und die Sänger standen wie die Klötze vorne an der Rampe und sangen gefühllos ihre Arien. War das der raffinierte Pariser Geschmack?
Als sie ihre Russen danach fragte, lachten die herzlos: »Die Pariser sind reine Snobs. Musik interessiert sie nicht. Nur das große Spektakel.« – »Das kann ja heiter werden«, grauste es Mariana. »Mach dir keine Sorgen«, wurde sie beruhigt. »Sei sinnlich und etwas exotisch, dann kann nichts schiefgehen. Und vor allem: Sprich gebrochen Französisch.«
Mariana erzählte von ihrem mühsamen, aber erfolgreichen Sprachtraining. »Vollkommen falsch«, wurde sie belehrt. »Du musst das ›R‹ hart rollen und verführerisch-fremdländisch gurren, so stellen sich die Franzosen eine Zigeunerin vor. Schau zu, dass du ein tiefdekolletiertes, prachtvolles Kostüm bekommst. Und noch was: Du kommst viel zu normal und natürlich daher. Solche Schuhe kannst du in Stuttgart tragen, aber doch nicht hier. Kauf dir Stöckelschuhe, schicke Kleider, das ist das Mindeste, was man von einer künftigen Carmen erwartet. Und mach auf ›Russisch‹, das ist hier zurzeit groß in Mode.«
Ihre russischen Verwandten hatten wahrscheinlich recht. Bisher hatte sich noch kein Franzose für sie ein Bein ausgerissen. Es war sicher naiv gewesen, sich zu sagen: »Die wissen doch, dass ich was kann, sonst hätten sie mich nicht haben wollen.« In Stuttgart war sie ein Publikumsliebling, aber hier in Paris, wer außer den Fachleuten kannte sie denn? Mariana war nicht beleidigt, sie begriff nur, dass sie es nicht ganz richtig angepackt hatte. Also gut: Jetzt werden wir die blasierten Pariser um den Finger wickeln! »Auf in den Kampf.« Raffiniertes Getue war eigentlich nicht Marianas Art, und Taktieren schon gar nicht. Aber das hier machte Spaß. Mit dem Regisseur, Frédéric Dupont de Miller, der seine Glatze mittels langer Strähnen, die er von den Seiten über den Schädel gepappt hatte, zu kaschieren suchte, wollte sie gleich anfangen. Viel zu ehrfürchtig hatte sie bisher seinen langweiligen Ausführungen gelauscht.
Jetzt gab es plötzlich Momente, in denen sich Marianas Französisch in Luft auflöste. Wie es ihr gerade einfiel, starrte sie den Regisseur dann schweigend an, stampfte mit zierlichen Schühchen auf den Boden und warf den Kopf in den Nacken, dass ihre ondulierten Haare dekorativ flogen, und übergoss die Anwesenden mit einem gänzlich unverständlichen, jedoch stets höchst melodischen Redeschwall. Ein unvorhersehbares, kapriziöses junges Weib. Mariana fand sich maßlos übertrieben.Doch der Trick funktionierte, Monsieur Dupont de Miller biss an und er wurde ganz eifrig.
So ein Gekünstel hatte Mariana beim Dirigenten nicht nötig. Er war es gewesen, der Mariana nach Paris geholt hatte. Sie kannten sich aus Stuttgart – durch ihren dortigen ›Rosenkavalier‹ war er auf Mariana gekommen –, aber sie hatten noch nicht miteinander gearbeitet. Jetzt stellten sie
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