Im Schatten der Tosca
Sache wieder hingebügelt. »Hinbügeln« nennt man das also. Das werde ich in meinen schwäbischen Wortschatz aufnehmen, als Stuttgarter Spezialbedeutung.
Zu Hause stolperte sie über das immer noch eingewickelte Bild am Boden. Der Rahmen war leicht aus den Fugen geraten, das Bild selbst jedoch unbeschädigt. Es war Marianas Seestück. Unverändert, unverbessert – welch ein Glück. Kurz entschlossen klopfte Mariana einen Nagel in die Wand neben dem Bett und hängte das Bild dort auf.
In der Nacht und auch am folgenden Tag klingelte es ein paar Mal im Takt von »Auf in den Kampf«. Mariana rührte sich nicht. Zwei Tage lang würde kein lautes Wort über ihre Lippen kommen. So hatte es Mariana beschlossen. Schade, Geliebter. Wirklich schade. Ein richtiges Geschrei hätte ihr jetzt schon gefallen.
Einmal klopfte Katharina an ihre Tür: »Warum übst du nicht, bist du krank?« Mariana zuckte die Achseln, deutete auf ihren Hals und legte den Finger auf den Mund. Sie setzten sich schweigend nebeneinander aufs Sofa. Nach einer Weile flüsterte Katharina: »Bist du traurig?« – »Hm, hm, hm«,brummte Mariana, dann fing sie an zu weinen, ganz friedlich und sanft. Wie gut das tat, ihrer Seele, ihrem Herzen. Als sie zwei Tage später in der Oper erschien, war ihre Stimme wieder leuchtend. Und sie selbst? Nun ja. Die Proben lenkten sie ab.
Der Octavian war Marianas bisher größte, interessanteste Rolle. So sehr viele große Partien gab es gar nicht für ihre Stimmlage. Zudem war noch nicht einmal eindeutig entschieden, wohin sich ihre Stimme entwickeln würde. Vom Temperament her lagen ihr die dramatischen Rollen. Nicht umsonst war sie von jeher in die Azucena vernarrt. Aber gerade dieses Fach war in Stuttgart von einer berühmten Sängerin in Beschlag genommen. Hier, an diesem Haus, das wusste Mariana, würde sie ihre Traumrolle nie singen, auch nicht die Carmen, die Ortrud, die Brangäne – bei allem Wohlwollen, das man ihr entgegenbrachte.
Dafür konnte sie sich hier in aller Ruhe ein Repertoire aufbauen – und das war sicher viel mehr wert und keineswegs selbstverständlich. Oft wurden junge Kräfte zu früh in exponierte Positionen hinaufkatapultiert, und ein paar Jahre später hieß es: »Der oder die ist ausgesungen.« Grässlich. Mariana musste dabei an einen ausgewrungenen Putzlappen denken, den man einfach wegwarf, wenn er einem nicht mehr gefiel.
Hier im Hause dagegen wachte eine Reihe vernünftiger Leute über die Sänger, der Intendant selbst, Dirigenten, Kapellmeister, hervorragende Korrepetitoren, auch ehemalige erfahrene Sänger. Es war durchaus üblich, jungen Sängern, die gerade eine große Partie hatten singen dürfen, das nächste Mal eine mittlere, ja sogar kleine Rolle zu übertragen. Manche protestierten und waren beleidigt, Mariana hatte Vertrauen, ihr schien es, dass sie im richtigen Moment die richtige Rolle bekam. So wie jetzt den Octavian. Bei ihm kamen alle ihre Stärken zur Geltung: ihre Musikalität, ihre warme, jugendfrische Stimme, ihr Aussehen, ihre Darstellungskraft,ihre Leidenschaftlichkeit, ihr Humor, ja sogar ihre Sprachbegabung.
Bertram Inzell, der die Genauigkeit liebte, verlangte von allen Sängern eine leichte Wiener Färbung. Er erklärte auch, warum: Die Wiener Stimmung entstehe nicht nur durch die Walzermusik, den Dreivierteltakt. Auch der Text habe eine ganz eigene Sprachmelodie, auf Hochdeutsch könne man ihn gar nicht sprechen, nicht einmal denken. »Aber ihr dürft nicht einfach wahllos durcheinandermauscheln. Dafür ist das Stück zu genau angesiedelt, zeitlich, örtlich, vom Milieu her. Jede Figur hat ihren eigenen, charakterisierenden Zungenschlag, der präzise sein muss: der neureiche Faninal, die feinsinnige Marschallin, das Volk, der derb-eitle Landadlige.«
Zu Mariana meinte er: »Der Octavian, das vornehme Bürschchen, spricht mit Sicherheit kein Schwäbisch, so wie du es dir zurechtgelegt hast. Aber die Richtung ist gar nicht schlecht, ein weiches, charmantes, leicht arrogantes Gemaunze schwingt bei ihm mit. Als Mariandl kniet er sich nach Herzenslust in einen übertriebenen, derb-dümmlichen Dialekt – einfach weil es ihm Spaß macht.«
Auch Mariana machte es Spaß, sich ihren Octavian noch genauer zurechtzulegen. Ein alter Wiener Kammersänger half ihr dabei. »Du bist ein Phänomen«, lobte Bertram Inzell. »Wir sollten den ›Rosenkavalier‹ in Wien zusammen machen – die Wiener könnten sich die Finger lecken. Das müssen wir uns
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