Im Schatten der Tosca
vergnügt und erleichtert fest, dass ihre musikalischen Vorstellungen in den wichtigen Punkten übereinstimmten. Und wenn sie nicht der gleichen Meinung waren, dann diskutierten sie sachlich und vernünftig miteinander und fanden schließlich eine Lösung, die sie beide überzeugte.
Marcello Rainardi liebte und verehrte die Komponisten, jede Note, die sie geschrieben hatten, war etwas Heiliges für ihn. Er versenkte sich so lange in eine Partitur, bis schließlich ihr Geist auf ihn überging – den er dann beim Dirigieren wie ein Medium zum Klingen brachte. Auf diese Weise gab es für ihn keine Effekthascherei, keine eitle Selbstdarstellung, solche Dirigentenmätzchen verachtete er. Sein Einfühlungsvermögen galt auch den Sängern, er ließ ihnen Luft und deckte sie nicht zu mit unnötig lautem Orchesterdonner. Dabei war er alles andere als ein sanftmütiger Langweiler, er konnte hitzig sein bis zum Exzess. Wenn er wollte, brachte er die Töne zum Glühen. Er galt als schwierig, was Mariana damals noch nicht wusste und später, als sie es erfuhr, nicht begreifen konnte. Sie verstand nur allzu gut, dass dieser nervöse Hitzkopf außer sich geriet, wenn jemand sich nicht genug Mühe gab. »Du armselige Beamtenseele!«, schrie er dann wutentbrannt. »Hock dich hinter einen Schalter und zähl Briefmarken. Was hast du hier verloren?!« Dafür brachte er eine Engelsgeduld auf bei Menschen, die einmal einen schlechten Tag hatten. Als ein Hornist mehrere Male hintereinander falsch einsetzte, weil er in Gedanken bei seinem kranken Kind war, schickte er den Mann für diesen Tag nach Hause.
Im Übrigen hatte er wie alle Neapolitaner Sinn für Komik.Als er sah, wie Mariana mit dem Regisseur umsprang, lachte er schadenfroh: »Ein aufgeblasener Wicht, zum Weinen konventionell, aber leider der Hausgott hier. Bravo, wie du den auf Trab gebracht hast! Ehrlich gesagt habe ich mir am Anfang Sorgen gemacht. Aber jetzt werden wir eine wunderschöne ›Carmen‹ auf die Beine stellen.«
Das gelang ihnen wirklich. Und es ging ohne erotisch-exotisches Spaniengetue. Mariana brauchte nur in Carmens Haut zu schlüpfen, und schon bekam ihr Französisch ganz von selbst einen rauen, unbändigen Klang, Härte und Stolz schwangen mit und tief aus dem Herzen kommende Sehnsucht. Marianas Carmen war kein tändelndes, oberflächliches Zigeunerweib, sie war wie ein schöner, wilder Vogel, der es in keinem Käfig aushält.
Das angeblich so versnobte Pariser Publikum war gerührt und betroffen, es klatschte und jubelte, und die versammelte russische Kolonie schrie sich die Kehlen heiser. In der feinen Pariser Gesellschaft riss man sich nun um Mariana, sie bekam sehr viel mehr Einladungen auf edlem Büttenpapier, als sie Abende frei hatte.
Zurück in ihrem vertrauten Stuttgart, musste sie sich erst einmal erholen. Aber sie war auf den Geschmack gekommen. Ihre Stuttgarter Termine kannte sie auswendig. Jetzt legte sie einen Kalender an und trug alles säuberlich ein. Dann konnte sie auf einen Blick erkennen, wann sie Zeit für Gastspiele hatte. Große Sprünge machen konnte sie als festes Ensemblemitglied nicht. Ständig stand sie auf dem Spielplan, inzwischen auch noch als Emilia, Giulietta, Frau Reich, Annina, in ›Otello‹, ›Hoffmanns Erzählungen‹, den ›Lustigen Weibern‹, der ›Traviata‹.
Nach einem Gespräch mit dem Intendanten nahmen die Verpflichtungen sogar noch zu. Denn man wollte sie noch länger halten, und so hieß es: »Mozart haben Sie ja noch gar nicht gesungen. Fangen wir an mit dem Cherubino. Und dannhaben wir auch noch ›Così‹ geplant – da bekommen Sie entzückende Kostüme als Dorabella. Sie sollen bei uns ja nicht nur in Hosen herumlaufen müssen. Und im Übrigen muss sich Frau Kunert einer Operation unterziehen. Nichts Schlimmes, hoffen wir, aber eine Zeitlang fällt sie sicherlich aus. Könnten Sie für sie die Eboli übernehmen? Natürlich bekommen Sie von uns jede Unterstützung, die Sie für eine Übernahme brauchen.«
Wie hätte Mariana da widerstehen können? Zudem zögerte sie vor einem endgültigen Sprung in die Ungebundenheit. Sie fühlte sich in diesem Opernhaus künstlerisch und menschlich sehr gut aufgehoben, und sie hing an ihrer wunderschönen Wohnung und dem idyllischen Stadtviertel mit seinen schnurrigen Bewohnern – selbst wenn manche von ihnen bei näherer Betrachtung doch nicht so bewundernswert waren, wie sie Mariana zu Anfang erschienen waren.
Einmal war Andreas an ihr vorbeigefahren,
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