Im Schatten der Tosca
In seiner Manteltasche fand Andreas schließlich ein Taschentuch. Er reichte es Mariana. Als er es zurückbekam, war es klatschnass. Er musste sich ein paar Mal räuspern, bis er herausbrachte: »Ich hab uns eine Flasche Champagner mitgebracht.« – »Du denkst wirklich an alles«, hätte Mariana jetzt normalerweise gesagt. Aber hier war nichts normal. Ächzend kam sie auf die Beine und holte zwei Gläser. Die Flasche war bald geleert. »Komm«, sagten sie beide in ein und demselben Augenblick. Sie stützten sich wie zwei Kranke, schleppten sich in Marianas Schlafzimmer und sanken auf ihr Bett.
Gegen Morgen fuhr Mariana im Bett hoch und zog Andreas die Decke weg. Wortlos schlug er die Augen auf, kroch aus dem Bett, hinein in seine Kleider und Schuhe, zur Tür hinaus.
Mariana hörte nur noch, wie die Haustür ins Schloss fiel. Sie schlief für ein paar Stunden wieder ein. Endlich wankte sie ins Bad. Erst nach einer Weile hatte sie den Mut, in den Spiegel zu schauen: Augen verschwollen, Haut fleckig, Haare wie ein ausgedienter Mopp. Die Stimme? Mariana ging in die Küche und machte sich einen Kaffee. Ihr Magen knurrte. Gab es irgendetwas im Leben, was ihr für längere Zeit den Appetit verschlug? Nach dem zweiten Honigbrot getraute sie sich endlich, ganz vorsichtig einen winzigen Ton auszuprobieren, doch krächzte sie nur. Sie kramte in ihren Geschenkpaketen nach den Aufgussblüten, setzte Wasser auf und zog sich ein dickes Handtuch über den Kopf. Tief und regelmäßig atmete sie den heißen Dampf ein und wieder aus. Bald lief ihr der Schweiß übers Gesicht – und es flossen auch wieder die Tränen. Dennoch war es ganz gemütlich in der schummerigen, feuchtwarmen Höhle. »Schluss mit den Seelenverrenkungen«,meldete es sich in ihr. »Fürs Erste hast du genug geheult. Jetzt kümmere dich um deine Stimme. Das ist wichtiger.«
Das Schicksal meinte es gut mit ihr: Die beiden folgenden Tage hatte sie spielfrei. Zeit genug, um wieder in Form zu kommen. Ganz sachlich machte sie einen Plan, sie wusste genau, was sie zu tun hatte – und was zu lassen.
Mit der Straßenbahn fuhr Mariana hoch zum Frauenkopf. Von dort ging sie durch den Wald. Sie hörte den Vögeln zu, atmete tief die frische Luft ein, in den bequemen, weichen Schuhen spürten ihre Füße den federnden Boden. In einem Waldcafé trank sie erst einen heißen Tee, dann ein Glas Rotwein, sie aß ein Stück Kuchen, dann eine Maultaschensuppe. Auf dem Heimweg schritt sie zügig voran, sie ließ die Arme schlenkern, ihr Kopf wippte beim Gehen mit. Sie fühlte sich munter und klar. So ein Liebeskummer hat einen starken Sog, da kann man schon hineingeraten, überlegte sie sich. Aber so ganz verstand sie sich selbst nicht. Im Grunde war sie doch ein Gefühlsmensch, auch wenn sich ihr klarer Verstand nicht einfach ausschalten ließ: Sie konnte sich freuen, sich aufregen, ärgern, wahnsinnig traurig sein und genauso lustig. Und jetzt, beim ersten richtigen Liebeskummer, schien ihr Bedarf an seelischem Durcheinander, an Gefühlswallungen nach ein paar durchlittenen Stunden bereits gedeckt? War das nicht sonderbar?
Wenn sie auf der Bühne stand, dann zeigte sie echte Gefühle, ihre eigenen, sie konnte nichts darstellen, was sie nicht selbst spürte. Sie schlüpfte hinein in eine andere Figur, sie machte sie sich zu eigen. Aber vielleicht war es auch genau andersherum, und die Figur ergriff von ihr Besitz. Es kam ihr ja auch immer so vor, als habe sie schon viel erfahren, durchgemacht, viele, viele Leben gelebt. Womöglich brauchte ein Künstler, ein Musiker, ein Sänger gar kein »echtes« Leben. Ach was, Unsinn, das echte Leben war schon eine phantastischeEinrichtung. Nur musste man es nicht auch noch aufplustern, es dramatisieren. Plötzlich schoss es ihr durch den Kopf: Kein Mann der Welt wird mir jemals so wichtig sein wie mein Gesang. Wenn ich wirklich wählen müsste, ich würde mich immer für das Singen entscheiden und es verteidigen – mit Zähnen und mit Klauen.
Nach Stunden war Mariana wieder am Frauenkopf angelangt. Sie wollte nicht versäumen, bei Loro vorbeizuschauen. Der hüpfte bei ihrem Anblick hocherfreut auf seiner Stange herum, schlug mit den Flügeln, krächzte »Ana, Ana«, plusterte das Gefieder und bog den Kopf zur Seite, Mariana kraulte und streichelte ihn, mit einem zarten Gegurre und Geschnarre unterhielten sie sich.
Auf dem Heimweg kicherte Mariana plötzlich los: Andreas mit seinem flauen Gefasel und seiner Bemerkung, er habe die
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