Im Schatten der Tosca
überlegen.«
Durch ihre Arbeit bekam Mariana wieder Auftrieb. Aber auf der Heimfahrt wurde ihr oft ganz flau. Sie würde in die leere Wohnung kommen, vielleicht ein Bad nehmen, Zeitung lesen, Radio hören oder sich etwas zu essen machen. Und dabei die ganze Zeit wissen: Nie wieder klingelt es »Auf in den Kampf«.
Einmal noch hatte Andreas auf sie gewartet. Mariana war vor Freude zusammengezuckt, als sie ihn auf der Treppe vor ihrer Wohnungstür sitzen sah. Ganz spontan hatte sie ihmzur Begrüßung die Wange hingehalten und ihn in die Wohnung gebeten. Etwas ratlos hatten sie in der Diele gestanden. »Hast du schon gegessen?«, fragte er. Die alten Küchenrituale empfanden beide als wohltuenden Halt.
Mariana hatte keine Abwehrtaktik gegen Andreas ersonnen. Dem leibhaftig ihr gegenüber Sitzenden und schwungvoll auf sie Einredenden konnte sie keinen Widerstand entgegenhalten. Im Gegenteil, Mariana fühlte, wie sie drauf und dran war, mit fliegenden Fahnen zu dem Belagerer überzulaufen. Doch plötzlich hörte sie sich sagen: »Wer war die Dame, der ich auf dem Weg zum Atelier begegnet bin?« – »Was soll das? Das ist doch ganz egal. Was hat denn das mit uns zu tun?«, stotterte Andreas verblüfft, völlig aus dem Konzept gebracht. »Die Hausbesitzerin«, fügte er zögernd hinzu. Mariana schaute ihn ruhig an. »Und? Ist sie sonst noch was?« – »Ach Gott, du stellst Fragen.« Jetzt schrie er fast. »Sie ist meine Schwiegermutter, verdammt noch mal!«
Darauf war es eine Weile still, bis Mariana schließlich feststellte: »Und das alles gehört ihr. Die Villa, das Riesengrundstück mit dem Wäldchen, dein Atelier . . .« Andreas wand sich vor Unbehagen, aber er sagte kein Wort. Fast heiter fuhr Mariana fort: »Wie schön für dich als Künstler. Dann musst du dich ja nicht ums schnöde Geld kümmern, sondern kannst deine ganze Kraft und Zeit der Kunst widmen – und bist sogar unabhängig vom Publikumsgeschmack. Du Armer, das muss ja ein schöner Schrecken für dich gewesen sein, als es meinetwegen Stunk gegeben hat. So eine fette Pfründe gibt man nicht auf, da müsste man ja bekloppt sein. Aber jetzt ist zum Glück ja alles wieder in Ordnung. Du hast die Sache wieder ›hingebügelt‹ – jetzt freust du dich sicher auf das Bügelergebnis.«
Andreas starrte Mariana nur hilflos an. Was hätte er schon sagen sollen?
Mariana war nicht stolz auf ihren Sieg. Durch Andreas hatte sie eine großartige Erfahrung gemacht: Sie konnte lieben, ziemlich leidenschaftlich sogar. Wie traurig, dass sie demselbenMann noch eine weitere unerwartete Einsicht verdankte: Sie konnte verachten, nicht gerade heftig, eher energielos – aber vielleicht war gerade das so trostlos. Diese sanfte Verachtung schob sich jetzt zwischen sie und Andreas, spinnwebfein, undurchdringbar. Da saß er vor ihr, hübsch, charmant, sympathisch wie eh und je – allein, was sollte Mariana mit diesen netten Eigenschaften noch anfangen?
Das Herumhängen in der leeren Wohnung hatte Mariana bald satt. Wie schon in der Anfangszeit ging sie nach getaner Arbeit mit den anderen wieder in die gemütliche schwäbische Gastwirtschaft, in der seit Generationen die Opernmenschen zusammenhockten. Das war nämlich auch eine Stuttgarter Spezialität: Anderswo mochten die lieben Kollegen Intrigen gegeneinander spinnen, hier futterte man lieber einträchtig Spätzle mit sauren Linsen, Maultaschen mit geschmelzten Zwiebeln und Kartoffelsalat, Gaisburger Marsch.
Als die Eltern zur ›Rosenkavalier‹-Premiere kamen und zaghaft nach dem Wunderknaben fragten, deutete Mariana auf das Seestück neben ihrem Bett: »Hier, das ist mir von ihm geblieben. Stellt euch vor, er wäre Amtsgerichtsrat gewesen, Mathematiklehrer oder Gasableser.«
Seit ihrem ›Rosenkavalier‹ gehörte Mariana zur ersten Riege der jungen Mezzosopranistinnen. Von überall her erhielt sie jetzt Angebote. Ein besonders reizvolles kam aus Paris, die ›Carmen‹. Mariana bat um Urlaub, aufgeregt und neugierig fuhr sie los. Gleich nach der Ankunft ging sie die Avenue de l’Opéra hinauf zur Oper. Mein Gott, wie sie dalag, stolz, ausladend, wohlgestalt. Das grüne Kuppeldach wie eine Krone. Und obenauf zwei stämmige, harfespielende Damen, zwischen ihnen ein nackter Jüngling, Orpheus, der seine Lyra hochhielt. Dazu noch, etwas tiefer postiert, auf den beiden Längsseiten jeweils ein sich spielerisch aufbäumendes geflügeltes Pferd. In diesem Prachtbau werde ich die Carmen singen, dachte sie
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