Im Schatten der Tosca
frösteln, von der Decke schien ein fahles Licht auf die hölzernen Bänke, Pritschen, Stockbetten, es roch nach Moder, nach einer Weile schien es Mariana, als sei sie schon in einem Zwischentotenreich. Die Menschen saßen da, stumm in sich versunken, hier und da wurde leise geflüstert, einmal weinte ein Kind, seine Mutter konnte es nicht beruhigen, die Umsitzenden starrten die beiden feindselig an. Was für eine ungute Atmosphäre! Neugierig fing Mariana an, sich ihre Schicksalsgenossen näher anzuschauen.
Vier von ihnen fielen ihr besonders auf. Ein Schüler hatte gleich nach dem Hinsetzen aus seiner abgewetzten Ledermappe Bücher, Hefte und Schreibzeug hervorgeholt, mit einer winzigen, akkuraten Handschrift machte er sich Notizen, mit einem Vierfarbstift und einem kleinen Lineal unterstrich er hier und da Wörter, ab und zu bedeckte er mit der Hand das soeben Geschriebene und bewegte lautlos murmelnd die Lippen. Offenbar lernte er den Text auswendig. Irgendwann schaute er auf seine Uhr und dann auf seinen Stundenplan, klappte die bisherigen Bücher zu, verstaute sie in der Ledermappe und zog ein anderes Buch hervor. Aha, jetzt war Physik an der Reihe, wie Mariana feststellen konnte. Alles an dem jungen Mann wirkte bestürzend ordentlich, er konnte gar nichts anderes als der Klassenprimus sein, jedenfalls nahm er von seiner Umwelt keinen Hauch zur Kenntnis.
Neben ihm saß eine »Frau aus dem Volke«, wie es in den Textbüchern zu stehen pflegte, vielleicht Mitte vierzig, abgearbeitete Hände, ein ganz liebes Gesicht, mit vielen Fältchen um die Augen. Ich glaube, die kommen vom Lachen, auch wenn sie jetzt so grantig dreinschaut, dachte Mariana.
Schräg gegenüber hockten zwei mausgraue Frauen, alles an ihnen war grau, Haare, Gesicht, Kleider, ihre Taschen, die Schuhe, sogar die kleinen Augen. Mariana erfasste es auf der Stelle: Von diesen beiden Nornen ging die ungute Stimmung aus, sie saßen auf der Lauer, sie waren gefährlich. Wie auf ein Stichwort fing in diesem Augenblick die grantige »Frau aus dem Volk« an zu schimpfen: »Der Göring, die fette Sau, der ist schuldig, dass wir hier sitzen und frieren. Der Herr Maier! ›Wenn ein einziges feindliches Flugzeug nach Deutschland kommt, dann will ich Maier heißen.‹ Ha, ha! Maier, das ist noch viel zu schön für den. Die gewinnen den Krieg nie, warum hören sie nicht endlich auf, jetzt helfen den anderen auch noch die Amerikaner. Ich habe seit Wochen keine Fensterscheiben, mein Nachbar, der Herr S A-Sturmbannführer , der hat seine schon am nächsten Tag bekommen.« Die Frau redetezornig auf den jungen Mann neben sich ein, der nicht einmal merkte, dass er gemeint war. Dafür spitzten die Nornen begierig die grauen Rattenohren. Mariana wurde es angst und bange: Mehr hatte dieser Unglücksrabe von jungem Klaviergenie sicher auch nicht gesagt, der vor ein paar Wochen in Berlin denunziert worden war und jetzt vom Sondergericht wahrscheinlich zum Tode verurteilt werden würde! Sehr von oben herab, würdevoll-entrüstet, herrschte sie die leichtsinnige Schwätzerin an: »Jetzt halten Sie endlich den Mund. Sie wollen uns doch nur provozieren. Ich kenne Sie doch, Ihr Mann ist Blockwart hier um die Ecke, und Sie haben fünf Söhne und das Mutterkreuz. Ich nehme an, Sie meinen es gut, aber Sie vertun Ihre Zeit: Wir hier sind lauter genauso überzeugte Parteigenossen wie Sie selbst.«
Der Frau blieb vor Verwunderung der Mund offen stehen. Was für einen Schwachsinn ich da daherrede, dachte Mariana, aber immerhin, die beiden Mausgrauen stutzten. »Ruhe, belästigen Sie uns nicht länger«, fauchte Mariana die Frau noch einmal an, die, wie ihr schien, etwas erwidern wollte. Endlich schien sie zu begreifen. Völlig verwirrt blickte sie sich um, übersah die grauen Frauen, aber Angst bekam sie doch. »Ich muss mal«, murmelte sie und verschwand.
Wie alle Menschen, die in Deutschland lebten oder dort arbeiteten, wusste selbstverständlich auch Mariana, dass die Bevölkerung von einem Heer von Spitzeln überwacht wurde. Meist waren das ganz unauffällige Leute, die nette Sekretärin, der freundliche Portier – wer würde auch schon einem stadtbekannten Nationalsozialisten, am besten gleich einem der gefürchteten Blockwarte, seine Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen kundtun? Nein, nein, das Überwachungsnetz war feiner gesponnen, Kinder zeigten die Eltern an, es ging hinein bis mitten in die Familien.
Gerade die Luftschutzkeller waren, wie Mariana erfuhr,
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