Im Schatten der Tosca
wahrscheinlich ins hochdramatische Fach hinübergewechselt wie so viele andere Sängerinnen, die aus dem Mezzofach kamen, mochte es auch für die Stimme Gefahren mit sich bringen! Ihre Kundry in Bayreuth war schon der erste sinnvolle Schritt auf diesem Weg gewesen, denn für die hochdramatischen Wagnerpartien bedurfte es als Fundament einer soliden Tiefe und einer reichen, klangvollen Mittellage. Bei vielen der schweren Sopranpartien hatte Wagner das Zentrum des Singens in dieser Lage angesiedelt. Die berüchtigten Spitzentöne, das wusste Mariana, wären bei der leidenschaftlichen Art, mit der sie sich ihren Rollen hingab, ganz von selbst gen Himmel gelodert. Brünnhilde, Isolde, um diese Herrlichkeiten hatten sie also die Kriegswirren gebracht. Sosehr das schmerzte, jetzt schien es Mariana zu spät, um den Sprung in das neue Fach noch zu wagen.
Immerhin, ein Gutes hatte dieser erzwungene Verzicht mit sich gebracht: Ihre Stimme klang noch genauso kraftvoll und geschmeidig wie zu den besten Zeiten. Es hatte ihr wohl gutgetan, dass sie eine Zeitlang nicht mehr so viel zum Einsatz gekommen und unfreiwillig geschont worden war. Auch jetzt, obwohl es im geschundenen Nachkriegseuropa ungewöhnlich rasch wieder aufwärtsging, dauerte es noch ein Weilchen, bis wieder einigermaßen normale Zustände herrschten. Nicht nur auf den Bühnen, auch bei der Eisenbahn, beim Fliegen. Mariana flog jetzt öfter als früher, ihr saßen die vergangenen Eisenbahnerlebnisse noch in den Knochen.
Der zögerliche Anfang hatte noch einen weiteren Vorteil: Mariana konnte ausprobieren, wie Massimo ihre erneute Abwesenheit aufnahm. Das Ergebnis war erleichternd: Offenbar erschien sie ihm selbstverständlich. Er war von jeher daran gewöhnt. Wenn Mariana wegfuhr, nahm er ihr das nicht übel, und wenn sie zurückkam, freute er sich, er kroch zu ihr ins Bett, sie musste ihm alles erzählen, stolz begleitete er sie durchdie Stadt. Das ging so ein, zwei Tage, aber dann reichte es auch schon, »Ciao Mamma«, hieß es, »ich geh jetzt zu Stefano.«
»Ich hab den Eindruck, ihr kommt recht gut ohne mich aus«, sagte Mariana irgendwann pikiert zu Pietro, sie wusste selbst, wie kindisch es war. Immerhin protestierte Pietro: »Mir fehlst du manchmal schon. Und Massimo ist eben ein Held.« Doch als seine Großmutter Birgit zum ersten Mal zu Besuch kam, war es um Massimos Heldentum geschehen: Er warf sich ihr an die Brust, er krallte sich an ihr fest, sie konnte kaum ihren Mantel ausziehen, ein schwedischer Wortschwall brach aus ihm heraus, vor Aufregung verhaspelte er sich. Den ganzen Aufenthalt über bewachte er seine Großmutter wie ein eifersüchtiger Hütehund, eigentlich sollte sie überhaupt nur mit ihm zusammen sein. Er allein wollte ihr Rom zeigen, sein Rom, so wie er es entdeckt hatte. Dazu gehörten auch die römischen Großeltern. Pietro und Mariana durften mit dabei sein, Massimo strahlte: Seine Familie. Eine richtige Familie.
Birgit musste ihre Heimfahrt immer wieder verschieben, erst als alle geschworen hatten, dass Massimo in den nächsten Ferien nach Stockholm fahren durfte, notfalls sogar allein, ließ er die Großmutter unter lautem Abschiedsgeheul ziehen. »Der arme kleine Kerl, sie liebt er wirklich, ich bin eben doch nur die Rabenmutter!«, jammerte Mariana. Zum Trost lud Silvana die ganze Familie zum Abendessen ein. Nach einer Weile sah der Tisch wie ein Schlachtfeld aus, Brotreste, Weinflecken, Krabbenschwänze, Spuren von Tomatensoße, abgenagte Knochen. Oben am Tisch lachten und plauderten die Erwachsenen, unten lärmten die Kinder, Massimo mitten unter ihnen, fuchtelnd, witzig, vergnügt. »Massimo wird das schon hinkriegen«, beschloss Mariana, allzu viele Zukunftssorgen hatten wirklich wenig Sinn.
Immer wieder feierte Mariana ein Wiedersehen mit Künstlern, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. In New York fiel ihr Georges Goldberg um den Hals: »Endlich! So, jetzt legenwir zusammen los.« Der Wunderknabe hatte sich inzwischen zum Star gemausert, seine Musicalsongs summte ganz Amerika, aber zum Komponieren kam er kaum mehr, leider auch nicht zum Klavierspielen, denn überall riss man sich um ihn als Dirigenten. »Mahler, weißt du noch«, sagte Mariana, »durch dich bin ich wieder zum Lied gekommen, in den letzten Kriegsmonaten in Schweden habe ich eine ganze Reihe von Liederabenden gegeben, mein Gott, hat mir das gefallen. Schubert, Schumann, Strauss, Wolf, nur mit Mahler habe ich auf dich gewartet.« – »Ich auch,
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