Im Schatten der Vergeltung
Irrsinn.
Cedrics Körper war plötzlich in Schweiß gebadet. Sein Verstand weigerte sich, auch nur ein Wort, das schwarz auf weiß hier geschrieben stand, zu begreifen oder zu glauben.
»Woher hast du das?«, keuchte er.
»Ich habe mich nach Lady Maureens Tod in die Schreibstube geschlichen und die Seite aus dem Patientenbuch gerissen. Hatte Glück, dass mich niemand dabei erwischt hat.«
Fassungslos schüttelte Cedric den Kopf.
»Warum bist du jetzt zu mir gekommen? Was hast du für einen Grund, mir das alles zu erzählen?«
»Als Lady Maureen bewusst wurde, dass sie an der gleichen Krankheit wie ihre Mutter leidet, kam ich als Pflegerin zu ihr. Sie musste miterleben, wie ihrer Mutter immer mehr die Realität verloren ging, bis Laura Mowat schließlich alle Menschen in ihrer Umgebung, selbst ihre eigene Tochter, nicht mehr erkannte und mit unflätigen Ausdrücken beschimpfte. Ja, es gab Tage, an denen sie uns tätlich angriff. In dieser Zeit erzählte mir Lady Maureen aus ihrem Leben. Sie wäre in Schottland geboren, aus Liebe zu einem englischen Offizier mit ihm in den Süden gegangen, und sie sprach viel von Trenance Cove und Cornwall. Am meistens sprach sie aber von Frederica. Der Kummer um ihre Tochter zerriss ihr das Herz, und sie brach ständig in Tränen aus. ‚Sie muss davor bewahrt werden!’, sagte sie immer wieder. ‚Frederica darf niemals Kinder haben, damit die Krankheit nicht weitergegeben wird!’
Bevor Lady Maureen in völlige geistige Umnachtung fiel, musste ich ihr auf die Bibel schwören, mich um ihre Tochter zu kümmern. Sie gab mir Geld, das mir ermöglichte, nach ihrem Tod nach Cornwall zu reisen.« Plötzlich klammerte Monja sich an Cedrics Ärmel. Er ließ es willenlos geschehen, zu aufgewühlt waren seine Gedanken und Gefühle. »Versteht Ihr nun, warum ich unbedingt mit Euch sprechen musste?«
Ungläubig schüttelte Cedric den Kopf. Wenn er es auch nicht glauben konnte, nicht glauben wollte, die Liste, die er immer noch in der Hand hielt, sprach für sich.
»Ich liebe Frederica und werde sie trotzdem heiraten«, sagte er mit fester Stimme. »Es heißt: In guten wie in schlechten Zeiten. Es ist nicht gesagt, dass die Krankheit bei ihr wirklich ausbricht, und wir werden die besten Ärzte konsultieren.«
Monja ließ ihn los, stand auf und wich ein paar Schritte zurück.
»Sie wird früher oder später ausbrechen, das steht fest. Dann werdet Ihr Eure Liebe zu ihr verlieren. Ihr werdet beginnen, sie zu hassen, ihr den Tod wünschen, denn sie wird Euch das Leben zur Hölle machen. Glaubt mir, Sir, ich habe Monate in der Gegenwart dieser Krankheit gelebt. Es ist mehr, als ein einzelner Mensch ertragen kann.«
»Ich werde mit Sir Philipp sprechen. Er hätte es mir gesagt, wenn seine Frau auf diese Art und Weise gestorben wäre.«
Sie lachte spöttisch.
»Er wird es leugnen. Was erwartet Ihr denn? Sir Trenance würde zugeben, mit einer Wahnsinnigen verheiratet gewesen zu sein und seine Tochter wird früher oder später ebenso elendig daran zugrunde gehen? Einen solchen Skandal wird er niemals riskieren. Das Einzige, das er anstrebt, ist, seine Tochter gut zu verheiraten, bevor die Krankheit sich bemerkbar macht. Das wäre ihm ja auch fast gelungen, wenn ich Euch nicht gewarnt hätte.«
»Sir Philipp wird mir die Wahrheit nicht verschweigen, und Frederica auch nicht. Ich werde sofort mit ihnen sprechen.«
»Tut es nicht! Frederica weiß weder die wahren Gründe über den Tod ihrer Mutter, noch, dass sie selbst an der Krankheit leidet. Wenn Ihr das Mädchen wirklich liebt, dann erspart ihr die Wahrheit. Sie wird über Euren Verlust hinwegkommen und vielleicht noch einige unbeschwerte und sorglose Jahre verbringen können.«
Cedrics Nackenhaare sträubten sich vor ungläubigem Entsetzen. Er merkte, wie sich der Stachel des Zweifels in sein Herz bohrte und mit jedem Wort tiefer eindrang. Fassungslos schüttelte er den Kopf, dann fielen ihm Dinge ein, über die er sich mehr als einmal bei Frederica gewundert hatte: Ihre Spontanität, die sie liebenswert, zugleich aber auch anstrengend machte; ihre wechselnden Stimmungen von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt. Er erinnerte sich an seine Jugend, in der er Lady Maureen regelmäßig gesehen hatte. Hatte seine Mutter nicht schon damals gesagt, die Lady erschiene ihr etwas seltsam? Sie war anders als alle anderen Frauen Cornwalls gewesen. Tatsächlich war auch Frederica mit keinem Mädchen, dem er je begegnet war, zu vergleichen.
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