Im Schatten der Vergeltung
wissen die Fischer nicht, wie sie ihre Familien über den Winter bringen sollen. Dann wird aus den Beständen von Trenance Cove kostenlos Getreide und Milch an die Betroffenen verteilt. Ohne unsere Hilfe würden viele von ihnen, besonders die Kinder und Alten, verhungern. Du siehst, auch ein Engländer hat ein Herz und ist gütig und gerecht.«
Um Lauras Mundwinkel zuckte es.
»Es ist verständlich, dass du deinen Mann verteidigst, aber ich kann und will nicht vergessen, was die Engländer unserem Land angetan haben. Und dir werde ich niemals verzeihen, dass du einen Feind geheiratet hast.«
Ärgerlich erhob sich Maureen und sah auf Laura hinunter. Diese alte, sture Frau konnte sie wirklich zur Weißglut bringen!
»Mutter, ich liebe Schottland sehr, schließlich bin ich hier geboren und aufgewachsen. Cornwall ist mir aber ebenfalls ans Herz gewachsen, denn dort ist nun meine Heimat – obwohl in meinen Adern schottisches Blut fließt.«
»Das tut es nicht.«
»Wie bitte?«
Maureen glaubte, die Worte ihrer Mutter falsch verstanden zu haben, denn sie waren nicht mehr als ein Flüstern gewesen. Auf einmal richtete Laura sich entschlossen auf und fixierte Maureen, als sehe sie ihre Tochter heute zum ersten Mal.
»In deinen Adern fließt ebenso viel englisches wie schottisches Blut.«
»Bist du jetzt völlig verrückt geworden?«, ächzte Philipp, aber Laura beachtete ihn überhaupt nicht. »Dein Vater ist ein Engländer.«
Maureen schien es, als stieße Laura diese Enthüllung voller Triumph hervor. Wollte sie sie absichtlich verletzen? Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben. Sie hatte keine Ahnung, was diese Behauptung bedeuten sollte, und dachte an John, ihren Vater, der für sie immer der Inbegriff eines Hochländers gewesen war.
»Ich dachte, Vater sei ebenfalls in Schottland geboren ...«
Laura kicherte plötzlich und presste beide Hände vor den Mund. Sie machte den Eindruck, als sei sie wahnsinnig geworden.
»John Mowat? Er war nicht dein Vater! Er hat mich gerettet, als ich bis zum Hals im Wasser im Loch Melfort stand. Er hielt es für seine Pflicht, mich armes Ding, das als einzigen Ausweg nur noch diesen Weg sah, vor dem Tod zu bewahren. Das habe ich John niemals verziehen.«
»Hast du ihn denn nicht geliebt«, fragte Maureen mit zunehmender Fassungslosigkeit. Laura lächelte bitter.
»Geliebt? O nein, niemals! Ich gebe zu, er war wie ein Anker in meinem Leben, an seiner Seite fühlte ich mich sicher. Aber Liebe? Pah!« Sie machte eine abfällige Handbewegung. »Ich bin noch heute davon überzeugt, dass es für alle Beteiligten besser gewesen wäre, wenn ich mich damals in den Fluten des Loch Melfort ertränkt hätte.«
Noch vor wenigen Minuten war Maureen der Raum unerträglich heiß vorgekommen. Jetzt wurde ihr schrecklich kalt, ihre Knie zitterten und, bevor ihre Beine nachgaben, war Philipp an ihrer Seite und führte sie zu einem Sessel. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.
»Was für eine Teufelei hast du jetzt wieder ausgeheckt?« Philipp warf Laura einen bösen Blick zu. »Nimm das sofort zurück, sonst kannst du dieses Haus auf der Stelle verlassen. Ich dulde es nicht, dass du meine Frau mit derartigen Verleumdungen erschreckst.«
»Warte, lass sie weitersprechen!« Maureen hielt sich krampfhaft an Philipps Ärmel fest und wandte den Kopf, der plötzlich schwer wie Blei zu sein schien, zu Laura. In ihren Ohren rauschte es, und ein starker Schmerz pochte in ihrem Schädel. Instinktiv wusste sie, dass Laura ihr etwas eröffnen würde, was ihr ganzes Leben verändern sollte. Seit sie zum ersten Mal den Namen McCorkindale gehört hatte, hatte sie gespürt, dass es in der Vergangenheit ihrer Mutter ein Geheimnis gab. Es wäre ein Leichtes gewesen, Lauras Gerede zu ignorieren und das Zimmer zu verlassen. Morgen würden sie nach Cornwall zurückfahren und Laura nie wiedersehen. Maureen war aber eine Frau, die Schwierigkeiten nicht aus dem Weg ging. Nun wollte sie auch die Wahrheit hören, die ganze Wahrheit mit allen Konsequenzen.
Laura sah Maureen durchdringend an. Es war, als würde sie mit ihrem Blick direkt in deren Seele sehen.
»Es ist wohl an der Zeit, die Wahrheit zu bekennen. Wenn ich einst auch geschworen habe, keiner Menschenseele ein Wort davon zu erzählen, so sind wir heute an einem Punkt angelangt, an dem ich nicht länger schweigen kann. Nicht länger schweigen will …«
Laura holte tief Luft und bat um einen Whisky. Philipp reichte ihr das Glas. Nur das Ticken der Uhr
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