Im Schatten des Drachen
Bartschatten, der sich weit über beide Wangen bis hin zu den etwas großen Ohrmuscheln zog und fast eine Spur zu dunkel schien. Dennoch versteckte er nicht das kleine Grübchen auf meinem recht ausgeprägten Kinn. Ich griff zum Shampoo. Während ich es mir auf dem Kopf verteilte, beobachtete ich meine Hände, die mir auch immer etwas zu groß und grob vorkamen mit ihren runden Nägeln und den deutlich hervorstehenden Adern.
Schließlich glitt mein Blick weiter nach unten. Auf der breiten Brust kringelte sich verspielt ein hellbrauner Haarflaum, zog sich in einer geraden Linie über den noch immer straffen Bauch bis hin zu dem dunklen Dreieck, in dessen Mittelpunkt sich seit zwei Tagen morgens mehr als deutlich wieder Dinge abspielten, die völlig im normalen Bereich lagen. Lediglich an den Hüften bemerkte ich erste Anzeichen dafür, dass sich meine Jugendzeit langsam, aber sicher dem Ende zuneigte. Dennoch konnte ich bis zu diesem Punkt mit meiner Bestandsaufnahme sehr zufrieden sein, und ich gestattete mir die durchaus kühne Behauptung, dass Paul es auch gefallen hätte.
Weiter hinunter reichte der Spiegel allerdings nicht. Aber das brauchte ich auch nicht zu sehen. Dorthin wollte ich nicht sehen. Und Paul durfte es erst recht nicht, niemals. Ich spülte mich ab und stieg schließlich aus der Dusche.
Mein Bein schmerzte etwas, vielleicht hatte ich es mit meinem morgendlichen Marathon durch die City überanstrengt. Eigentlich hätte ich zu Hause bleiben sollen. Dennoch zwang ich es wieder in Strumpf und Schuh, nachdem ich es eher strafend als begütigend eingecremt hatte. Der Elektrorasierer glitt fahrig über meine Haut, sein feines Summen übertönte das Knurren meines Magens kaum. Inständig hoffte ich, dass es im Pub etwas zu Essen geben würde, denn das Abendessen im Hotel musste ich ausfallen lassen.
Mit unsicheren Schritten betrat ich vierzig Minuten später den Pub. Ich schlenderte langsam um die Tische herum, verfluchte innerlich den mit jedem Schritt heftiger werdenden Schmerz in meinem Bein, der es mich leicht und so unscheinbar wie möglich hinter mir herziehen ließ. Zerstreut nickte ich einigen Pubbesuchern zu und erreichte schließlich erleichtert die Bar, wo ich mich auf einen der angenehm hohen Barhocker schob und mein Bein ausstreckte.
Der Pub war bereits bis auf den letzten Tisch gefüllt, die Geräuschkulisse entsprechend angeschwollen, die Stimmung trotz der noch recht frühen Stunde erstaunlich ausgelassen. Bei näherem Hinsehen wurde mir jedoch bewusst, dass die beinahe anstößige Partylaune wohl doch nur von einem einzigen Tisch auszugehen schien, einer Art Stammtisch, an dem vielleicht acht junge Männer überaus ausgelassen feixten und stichelten. Dreh- und Angelpunkt ihrer derben, fast schon obszönen Späße war der arme Typ in ihrer Mitte. Ein Blick hinüber sagte mir, dass er Mitte Dreißig, blass und ziemlich angespannt war. Einige Wortfetzen drangen zu mir herüber, genug, um zu begreifen, dass es sich wohl um seine Junggesellenparty handelte. Der groteske Widerspruch zwischen dem Anlass und dem Auftreten des künftigen Bräutigams nötigten mir noch einen zweiten Blick ab - direkt in seine grauumschatteten, glanzlosen Augen. Der Hunger, der mir daraus entgegensprang, diese tausendmal entfachte, niemals gestillte und immer wieder heruntergeschluckte Sehnsucht hinter all der aufgesetzten Fröhlichkeit überrannte mich fast. Es war der Blick eines Mannes, der sich selbst bis ins Mark verleugnete, seine wahre Existenz einem billigen Streifen Leben opferte, den anzusehen er sich selbst nicht traute - zu sehr war sein Wesen überschminkt mit der falschen Maske einer halben Kreatur, die zu sein seine Welt von ihm verlangte.
Seine Augen fanden meinen Blick, saugten sich an mir fest, und ich meinte fast, so etwas wie Ahnung und Erkennen darin aufblitzen zu sehen. Es war das uralte Spiel zwischen zwei Seelen, die dasselbe verband, was niemand sonst wahrhaben wollte. Leben kam in ihn, sein wahres Ich, das tief in den dunkelsten Nischen seiner Begehrlichkeiten noch immer existierte, und ich sah, wie er sich langsam erhob. Sein Blick wanderte von mir zur Toilettentür und zurück, zwei-, dreimal vielleicht. Er ging los, ohne die Anzüglichkeiten seiner Kumpane zu beachten, mich nicht aus den Augen lassend, mit der verzweifelten Hoffnung, jenseits dieser letzten Tür vor seinem Untergang in mir das zu finden, was ihm in den Armen seiner künftigen Frau für immer verwehrt
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