Im Schatten des Drachen
ließ er sich das nicht anmerken, sondern zog stattdessen eine Augenbraue hoch und entgegnete lässig: „Findest du?“
„Naja, dafür, dass wir uns nicht einmal richtig kennen?“
Er nickte und legte das Messer beiseite.
„Dagegen ließe sich leicht etwas tun. Meinen Namen kennst du ja schon. Wie darf ich dich denn nennen?“
An den Ufern des Shannon, 02. Mai 2002
„Ich habe nachgedacht, Jo.“
Sie saßen irgendwo am Straßenrand auf einer Decke, hatten Kekse und Äpfel ausgepackt und reichten die Wasserflasche hin und her, um abwechselnd daraus zu trinken. Keiner von beiden wischte vorher den Flaschenhals ab, was der Zeremonie mehr noch als das Gesprächsthema eine sehr vertrauensvolle Atmosphäre verlieh. Das Motorrad stand aufgebockt neben ihnen, seine verchromten Schutzbleche blitzten herausfordernd im Sonnenlicht. Vor ihnen fiel die Wiese sanft zum breiten Fluss ab, der träge funkelnd dem Meer entgegenfloss. Am nördlichen Horizont zeichneten sich glasklar die Hügel von Connemara vor dem strahlendblauen Frühlingshimmel ab, und nicht weit von ihrem Rastplatz drang ein leises Blöken über die saftig grüne Wiese. Die Szenerie strahlte etwas Friedliches, Unberührtes aus, voller Hoffnung und Freude auf das Leben, das unter den wärmenden Strahlen der Frühlingssonne wieder neu erwachte.
Johannes hatte sich gerade gefragt, ob es in dem Fluss Fische gab, und ob sie es schaffen konnten, einen zu fangen. Marcs Stimme riss ihn unsanft aus diesen Nachmittagsträumen.
„Worüber denn?“, fragte er die naheliegendste Frage.
Marc schraubte die Wasserflasche zu: „Über dich. Und darüber, dass du gerne ein anderer sein möchtest, als der, der du bist. Ich hab mich gefragt, warum das so ist, aber das werde ich wohl nie verstehen, weil ich mich wohl fühle, so, wie ich bin.“
Er streckte sich neben Johannes aus, knöpfte das Hemd auf und reckte die blanke Brust in die Sonne. Johannes warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Natürlich, Marc hatte keinen Grund, sich unwohl zu fühlen: mit diesem Körper, diesen Augen, diesem Charme. Johannes legte sich neben ihn und stützte den Kopf auf, während Marc die Finger im Nacken verschränkte. Sie waren einander sehr vertraut, und mittlerweile hatte Johannes sich an den Anblick des Tatoos gewöhnt, auch wenn er den Wunsch, es zu berühren und zu streicheln, noch immer nur mit Mühe unterdrücken konnte. So weit ging Marcs Vertrauen dann doch nicht.
Marc sprach wieder: „Ich denke aber, dass ich deine Angst verstehe, dass man dir wehtun könnte, wenn du deine verletzliche Seite zeigst.“
„Mag sein. Aber man kann nicht aus seiner Haut, oder?“
„Nein, wahrscheinlich nicht.“ Marc zuckte die Schultern. Dann fragte er unvermittelt: „Warum spielst du nicht ein bisschen Theater?“
Auf Johannes’ Gesicht machte sich Erstaunen breit. „Wie meinst du das?“
„Ganz einfach“, in Marcs dunkle Augen trat ein Funkeln wie immer, wenn er eine Idee hatte, von deren Genialität er überzeugt war. „Zum Beispiel dein Name: warum muss jeder x-beliebige Fremde deinen wahren Namen erfahren? Du musst dich nicht jeder Kneipenbekanntschaft gegenüber ausweisen. Dein Name ist ein Teil deiner Persönlichkeit, und solange du es nicht anders willst, geht er nur dich etwas an. Mit einem anderen Namen kannst du auch ganz leicht eine andere Persönlichkeit annehmen, für einen Tag, eine Nacht, eine Woche, wie du willst.“
Das klang logisch, im ersten Moment zumindest. Doch Johannes brauchte nicht lange, um die Schwachstelle in Marcs Strategie zu entdecken. „Allerdings beruhen Freundschaften und Beziehungen auf nichts geringerem als Vertrauen. Nur, wie soll Vertrauen entstehen, wenn die Beziehung mit einer Lüge anfängt?“
Marc schüttelte unwirsch den Kopf. „Das ist keine Lüge, sondern ein Hilfsmittel. Um dich zu schützen, dir Zeit zu verschaffen, zu sehen, wer der andere ist. Ist er ein Freund, dann wird er dich verstehen, wenn die Zeit reif dafür ist. Ist er dagegen ein Feind, wird sein Degen in eine leere Hülle stoßen und dich nicht treffen, denn du bist nicht der, den er angreift.“
Johannes drehte sich auf den Rücken und blinzelte den Schäfchenwolken nach, die gerade gemütlich am Himmel entlang zogen. Irgendwie klangen Marcs Worte logisch und doch auch wieder nicht. War es so einfach, das eigene Ich in sich selbst einzusperren, sich selbst zu verleugnen, indem man vorgab, jemand anderes zu sein? Und wie lange
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