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Im Schatten des Drachen

Im Schatten des Drachen

Titel: Im Schatten des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. Leuning
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würde diese Maskerade wohl gut gehen, er den falschen Charakter durchhalten, wenn er ihn einmal angenommen hatte?
    Eins war sicher: er mochte seinen Namen nicht sonderlich, weil der genau das symbolisierte, was er selbst war: zweigeteilt. Die erste Silbe klang hart und markant, cool, wie Marc gesagt hatte. Sie war auch sein gängiger Spitzname: Jo. Average-Joe, der ganz normale Durchschnittstyp. Die andere Hälfte glitt weich und säuselnd über die Lippen, wurde oft verschluckt, als wäre er nur zur Hälfte da. Der Rest fiel unter den Tisch, das, was keiner wahrhaben wollte, was man nicht akzeptierte, und er am allerwenigsten.
    Er hatte sich schon immer einen anderen Namen gewünscht; einen, den man nicht aufteilen konnte, der nur als ganzes einen Sinn gab, ohne Silbenbrüche. Ein ganzer Name für die ganze Persönlichkeit in ihm. Auch für die, die keiner kannte. Bis auf den Typen neben ihm.
    „Mein Name ist - Matthias.“
    Nicht einmal eine seiner Augenbrauen zuckte ob meines kurzen Zögerns; Paul nahm den falschen Namen einfach hin. Beinahe enttäuscht über den simplen Erfolg meiner Maskerade wandte ich mich wieder meinem Sandwich zu und entfachte Smalltalk. „Was machst du eigentlich sonst, wenn du nicht gerade mit anderen Männern frühstückst?“
    Das Frühstück dauerte über zwei Stunden, und ich ertappte mich dabei, wie ich jede einzelne Sekunde davon in vollen Zügen genoss. Mein Entschluss, ihn vorerst nicht zu nahe an mich heran zu lassen, und ihn auch meinerseits nur an der überschaubaren, glatten Oberfläche abzutasten, erschien mir zunächst einfach, weil schmerzfrei; aber schon nach kurzer Zeit wurde ich mir einer unbestimmten Sehnsucht bewusst: nach mehr, näher, tiefer - und es tat irgendwie doch weh, diesen Wunsch auch bei ihm zu spüren. Aber dem nachzugeben hätte bedeutet, meine Deckung aufzugeben, und dazu war ich nicht bereit.
    Trotzdem war es ein gemütlicher Plausch, wir lachten viel, und mehr als einmal ertappte ich Paul dabei, wie sein Blick einige Sekunden zu lange an meinen Lippen hängen blieb, als hätte er sich daran festgesaugt, während das Echo meiner Stimme noch in seinem Kopf wiederzuhallen schien.
    „Wie alt bist du eigentlich?“, fragte ich ihn, während ich mir die dritte Tasse Kaffee einschenkte.
    „Wie alt schätzt du mich?“, fragte er zurück.
    Ich überlegte kurz. Aufgrund seiner hellen, reinen Haut und den strahlenden Augen schien er sehr jung zu sein. Allerdings ließen mich sein ruhiges Wesen, seine überlegte Art, sich zu geben, und sein gepflegter Ausdruck auf ein reiferes Alter schließen. Ich versuchte es mit einem Kompromiss: „Als ich dich gestern im Pub gesehen habe, dachte ich, du wärst so etwa dreißig.“
    Entrüstet zog er die Augenbrauen zusammen. Okay, das war zuviel gewesen. Rasch fügte ich hinzu: „Allerdings, wenn du noch am Trinity-College bist, wie du vorhin sagtest, dann kannst du höchstens Anfang zwanzig sein, oder?“
    Er lächelte geheimnisvoll und nippte an seinem Orangensaft, bevor er entgegnete: „Am College sind nicht nur Erstsemester unterwegs. Und mal abgesehen davon: welche Konsequenzen hätte denn mein Alter für dich? Würdest du mich mit dreißig mit auf dein Zimmer nehmen, aber mir mit einundzwanzig den Laufpass geben? Oder andersherum? Ich denke, mein Alter spielt für uns beide eine genauso wichtige oder unwichtige Rolle wie dein wahrer Name, nicht wahr?“
    Ich zuckte zusammen. Er hatte mich also doch durchschaut. Peinlich berührt senkte ich den Blick und spürte im nächsten Moment, wie sich seine kühle Hand auf meine legte. Die Reaktionsgeschwindigkeit in mir erhöhte sich um ein Vielfaches, etwas in mir glühte auf wie das Metall damals im Chemieunterricht.
    Seine Stimme drang leise fragend an mein Ohr: „Wovor hast du Angst, Matty? Vor mir? Vor dir? Vor dem, was hier gerade passiert oder dem, was schon einmal geschehen ist?“
    Ich blickte ihm wieder in die Augen, deren tiefes Blau mich an den Ozean von heute morgen erinnerte. Die Brandung schien erneut in mir aufzuwallen.
    „Was geschehen soll, geschieht“, flüsterte er, „egal, ob du etwas dafür oder dagegen tust. Lass die Wellen einfach mal über deinem Kopf zusammenschlagen. Du wirst auch wieder auftauchen, glaube mir.“ Damit drückte er sanft meine Hand, erhob sich leise und verließ den Frühstückssaal.
    Ich blieb zurück, halb verbrannt und halb ertrunken. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass er mir einen eigenen, neuen Namen gegeben hatte.

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