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Im Schatten des Drachen

Im Schatten des Drachen

Titel: Im Schatten des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. Leuning
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Matty.
       
     
       
     
    Dublin, Innenstadt, 05. September 2007
       
     
    Zwei Tage lang hörte ich nichts von ihm, und so intensiv ich auch in mich hineinhorchte, ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich darüber froh oder traurig sein sollte.
    Nach einem hastigen Frühstück rüstete ich mich für einen längeren Spaziergang durch die Stadt, aber ich hatte das dumpfe Gefühl, dass ich nicht sonderlich weit kommen würde. Tatsächlich verbrachte ich den größten Teil des Vormittags auf der O’Connell Bridge und schaute dem Verkehr zu, der laut dröhnend an mir vorüberzog. Es irritierte mich noch immer, die Fahrzeuge auf der ‚falschen’ Seite fahren zu sehen, und besonders die waghalsigen Manöver der zweigeschossigen Busse ließen mir das Blut in den Adern gefrieren. Menschentrauben schoben sich auf den breiten Fußwegen zu beiden Seiten der doppelspurigen Fahrbahn entlang, laut lachend und schwatzend, geschäftig gestikulierend, hastig vor sich hin kauend oder einfach nur tief in Gedanken versunken. Hin und wieder schnappte ich ein paar Wortfetzen auf: deutsch, spanisch, irgendwas osteuropäisches, japanisch - Touristen mit Kameras um den Hals, die der Illusion des perfekten Fotos nachjagten, sich in Pose warfen und „Cheese“ sagten. Sie nannten das Urlaub, doch ihr Gehabe kam mir so flach und unscharf vor wie ihre Fotos, auf denen nichts als ein konturloser, chemischer Abglanz der Wirklichkeit zurückbleiben würde, der nur unwesentlich langsamer verging als die Erinnerung an die Sekunde, da der Auslöser klickte.
    Auf der Suche nach einem Souvenirladen war ich über zwei Stunden lang die O’Connell Street rauf- und runtergelaufen, nur um dann festzustellen, dass der billige Nippes, der den verrückten Touristen angeboten wurde, bei weitem nicht dem gerecht wurde, was man seinen Lieben von dieser wunderschönen Insel mitbringen sollte. Und eigentlich war es auch kein Souvenir, das ich suchte. Ich hatte etwas ganz anderes verloren, nicht hier, in diesem Betonmeer, das bis auf einige bunte Häuserfassaden und lustig angestrichene Eingangstüren nichts mit dem irischen Selbstbild gemein hatte. Dublin war die Hauptstadt der Republik Irland, doch wenn man an den tickenden Ampeln stand oder in die Hintergassen zwischen den Häuserzeilen geriet, konnte man das Gefühl haben, in jeder beliebigen Großstadt zu sein. Irland war wo anders. Ich wusste auch, wo - aber ich wusste nicht, wie ich dahin kommen sollte.
       
     
    Am Nachmittag fand ich eine SMS auf meinem Handy: „Heute Auftritt im McDaid’s. Das Guinness schmeckt dort ausgezeichnet! Beginn: 20.00 Uhr. Paul.“
    Ich war gerade ins Hotel gekommen, eigentlich ziemlich müde und deshalb umso erstaunter, wie seine enorm kurze Nachricht augenblicklich meinen Adrenalinspiegel in die Höhe schießen ließ. Doch obgleich ich mich beeilen musste, um noch rechtzeitig und möglichst ungesehen im Pub einzutreffen, gönnte ich mir noch eine ausgiebige Dusche.
    Ich hatte mir einen kleinen Plastikhocker besorgt, auf dem ich in der Duschkabine sitzen konnte, was gleichermaßen sicher und entspannend für mein Bein war. Konzentriert verteilte ich das Duschgel auf meinem Körper, massierte es mit sanften, kreisenden Bewegungen in die Haut ein. Mein Blick folgte meinen Händen, und durch die halb geöffnete Tür der Duschkabine betrachtete ich im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand, was ich fühlte: den Körper eines großgewachsenen Mannes Anfang dreißig, nicht hager, jedoch auch nicht muskelbeladen, mit vielleicht etwas zu langen Armen, mit dunklem Stoppelbart und im Moment ziemlich glanzlosem Haar. Im künstlichen Licht der Badezimmerlampe war dessen Farbe nicht zu bestimmen, ebenso wenig wie der Schnitt. Aber ich wusste, dass es im Sonnenlicht hellbraun schimmerte. Und solange ich es ganz kurz geschnitten trug, ließen sich auch die vielen Wirbel irgendwie zähmen.
    Hellbraun, mit einem leichten Stich ins Grüne, war auch die Farbe meiner Augen, die mich aus dem Spiegel heraus unter geraden Augenbrauen und kurzen, beinahe golden schimmernden Wimpern anschauten, nachdenklich und voller Skepsis. Skepsis verriet auch der Zug um meine schmalen Lippen, die sich zu einem Strich zusammengepresst hatten und damit den Gegenpol zu der senkrechten Falte über der Nasenwurzel bildeten. Im Moment konnte ich mir nicht vorstellen, mich lächeln zu sehen.
    Unter meiner ebenfalls schmalen, geraden Nase mit den beinahe weich anmutenden Nasenflügeln lag der

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