Im Schatten des Drachen
allein gelassen und an einen anderen gedacht, während er neben mir geschwebt war.
„Und du?“, fragte ich, einer kleinen Hoffnung nachgebend, „hat es dich an jemanden erinnert?“
„No, there is nobody else in my mind. Has never been.“
Es dauerte einen Moment, bis ich den Sinn seiner Antwort begriff. Offenbar war ich der erste Mann in seinem Leben. Dafür hatte er seine Sache aber verdammt gut gemacht. Vielleicht hatte er sich gewünscht, von mir geführt oder wenigstens verführt zu werden. Beinahe schmerzhaft wurde mir bewusst, wie viel Mut und Kraft es ihm abverlangt haben musste, uns beide durch dieses Labyrinth zu bringen. Dass da noch ein dritter war, damit hatte er nicht rechnen können.
Ich spürte, wie er erneut Luft holte, um etwas zu sagen.
„Ich werde dich nicht nach ihm fragen, Matty. Ich werde dich auch nicht danach fragen, was geschehen ist. Damals, mit dir und mit euch. Denn dass es vorbei ist, das habe ich an dem Ton deiner Stimme gehört. Vielleicht wirst du irgendwann selbst den passenden Zeitpunkt finden, es mir zu erzählen.“
Ich schwieg eine Weile, dann fragte ich: „Wirst du heute Nacht bei mir bleiben?“
Er blickte zu mir herab, dann zur Uhr. Ein bedauerndes Lächeln glitt über seine Züge. „Nein, Matty, heute Nacht nicht. Ich muss jetzt gehen, es ist schon spät.“
„Wirst du erwartet?“
War es Eifersucht, die mich zu der Frage getrieben hatte? Angst vor dem Verlust nach solch einem Geschenk? Ratlosigkeit, wie es nach soviel Intimität normal weitergehen sollte? Er antwortete nicht, hob stattdessen meinen Kopf von seinem Schoß, um ihn dann wieder auf einem Kissen zu betten und schließlich aufzustehen. Mit jeder Bewegung gab er mir das Gefühl, als wäre ich ein schwerkranker Mann, ein hoffnungsloser Pflegefall.
Zu meiner Verunsicherung und Enttäuschung gesellte sich eine unsagbare Wut. Wieso ließ er mich jetzt allein? Wieso wies er mich zurück, ließ mich fallen ohne eine Erklärung, ohne eine Perspektive? Ich verfolgte seine Bewegungen mit meinem Blick, beobachtete, wie er seine Jacke von der Kommode nahm und zur Tür ging. Mit der Hand auf der Türklinke drehte er sich noch einmal um. Sein Blick irrte durch die Dunkelheit zu mir herüber, und entweder verfehlte er mich absichtlich, oder ich wich ihm in diesem Moment aus. Nach sekundenlangem, alles- und nichtssagendem Schweigen fiel die Tür mit einem leisen Klicken hinter ihm ins Schloss.
Ich warf mich herum, hoffte, dass das Rascheln der Bettdecke den Fluch übertönt hatte, der sich über meine Lippen gestohlen hatte. Wo eben noch heilende Kühle und besänftigende Zärtlichkeit gewesen war, herrschte jetzt ein Aufruhr aus schmerzhafter Demütigung und brennender Scham. Mein Magen rebellierte, und ich drehte mich rasch wieder auf den Rücken. Ich durfte dem drängenden Würgen nicht nachgeben, denn bis zum Bad würde ich es nicht schaffen.
Er war gegangen, hatte mich abgefertigt wie einen Kunden, allein zurückgelassen ohne ein zärtliches Wort, eine Umarmung, ohne die Aussicht auf Gefühle in diesem Chaos aus Leidenschaft und schier unstillbarem Verlangen, das er in mir geschürt hatte. Was sah er in mir? Eine wehrlose Beute, ein geduldiges Übungsobjekt, eine Möglichkeit, seine sexuellen Fertigkeiten zu trainieren, bevor er sich endgültig hinauswagte in die schwule Welt, um sich einen richtigen Kerl zu erobern? Einen, der mit beiden Beinen fest im Leben stand?
Wieder spürte ich jenes sehnsuchtsvolle Kribbeln in meinen Venen, die so brutal durchschnitten worden waren. Warum? Warum geschah das jetzt wieder? Warum spürte ich etwas, wo nichts sein konnte, nichts sein sollte, nichts sein durfte?
Irgendwie schaffte ich es zum Bett und ließ mich in die weichen Kissen fallen, die mich gnädig einhüllten, alles zudeckten, abfederten, erleichterten. Um mich herum herrschte längst keine schwarze, undurchdringliche Finsternis mehr. Fahles Licht schimmerte durch die blauen Gardinen. Der Morgen brach an. Ich schloss die Augen davor.
Rehabilitationsklinik bei Frankfurt/Main, Anfang Juli 2002
Der Fitnessraum war nicht sonderlich groß und schlecht gelüftet obendrein. Damit machte er seinem Namen ‚Fitnesszentrum’ keine Ehre, und es wunderte Johannes, in der sonst so modernen, mit Reinlichkeit und Großzügigkeit prahlenden Rehaklinik einen so winzigen Sportraum vorzufinden, der mehr als vollgestellt war mit Trainingsgeräten und -bänken, Laufbändern und
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