Im Schatten des Drachen
Einstellung der Gewichte penibel überwachte, als würde er genau wissen, dass sein neuer Schützling nur eine Möglichkeit suchte, um sich selbst zu betrügen. Bei den Koordinationsübungen war er immer wieder gestrauchelt, weil sein Gehirn das Gewicht der Prothese noch nicht richtig berechnen und sein Körper es demzufolge nicht optimal ausbalancieren konnte. Maik stand ständig hinter ihm, bereit, ihn an den Hüften zu halten, und folgte mit den Händen den Bewegungen seiner Oberschenkel. Es kostete Johannes unglaublich viel Energie, sowohl die wachsende Aggression gegen Maik als auch die aufkommende sexuelle Erregung unter Kontrolle zu halten, und mehr als einmal fragte er sich, ob Maik auch so fürsorglich wäre, wenn er wüsste, dass Johannes ihm irgendwie gerne nicht nur einen Tritt in seinen prallen Hintern gegeben hätte. Einfach nur, um genauso viel Entsetzen und Scham in dessen koboldhaften Augen zu sehen, wie er selbst empfand, während er seinen Stumpf in die Prothese zwang, um die nächsten Gehübungen zu machen.
Dublin, 06. September 2007
Es war bereits später Nachmittag, als ich aus einem langen, tiefen und traumlosen Schlaf erwachte. Irgendwie fühlte ich mich frisch und ausgeruht, was seit Monaten das erste Mal war. Lag es an den Tabletten von gestern? Aber die wirkten schon seit langem nicht mehr so gut. Ich spürte nach unten, vorsichtig, beinahe ungläubig. Mein Bein lag friedlich und entspannt unter der Decke, ich fühlte weder Schmerz noch Leere. Von draußen drang warmgelbes Sonnenlicht durch die blauen Vorhänge und verbreitete im Zimmer einen grünen Dämmer.
Irgendwann fand ich mich vor dem PC im Communication-Center des Hotels wieder und beobachtete mich selbst, wie ich im Net surfte. Zunächst war mir nicht klar, wonach ich eigentlich suchte, bis mir der rote Lockenschopf auf dem Monitor ins Auge stach. Wie in Trance hatte ich den Namen der Band eingegeben und war jetzt auf ihrer Seite gelandet. Ich sah Tom mit seinem Bordhán, Pete in verschiedenen Outfits mit Flöte oder Banjo in der Hand, und natürlich Paul. Meist mit seiner Geige im Arm; eine Aufnahme zeigte ihn lachend und mit dem Bogen winkend, eine andere tief in sein Spiel vertieft. Letztere zoomte ich mir ganz nah heran, bis ich deutlich den konzentrierten und gleichzeitig wunderbar entspannten Ausdruck auf seinem weichen Gesicht sehen konnte. Für eine Sekunde stellte ich mir vor, wie es gestern Nacht wohl ausgesehen haben mochte, als er mich ...
Beinahe automatisch klickte ich mich zu ihrem Tourneeprogramm durch, scrollte Zeile für Zeile nach unten, hatte nicht einmal die leiseste Ahnung, welcher Tag heute eigentlich war, und fand das gesuchte Datum doch auf Anhieb: 06. September, 20.00 Uhr ’Slattery’s’. Ein winziger Auszug aus dem Dubliner Stadtplan zeigte mir undeutlich die Position dieses Pubs an. Ich beschloss, mir das Gewirr aus Straßennamen nicht zu merken. Das taten genügend Taxifahrer für mich.
Zwei Stunden später stand ich vor dem ‚Slattery’s’. Für das übliche Versteckspiel war ich zu spät dran, aber das hatte sich ja nun sowieso erledigt. Gleichgültig über mein heute allerdings kaum merkliches Hinken betrat ich den Pub und schlängelte mich durch die Stuhlreihen, dieses Mal jedoch nicht zum hintersten Platz an der Bar, sondern hinüber zu der kleinen Tür, die in einen Nebenraum zu führen schien. Bei den letzten beiden Malen hatte ich beobachtet, dass sich die Band vor den Auftritten immer in einem der Hinterräume aufhielt, und dahin wollte ich jetzt auch. Ich wollte Paul sehen, und zwar nicht fertig geschniegelt und gebügelt, glänzend im Licht der Scheinwerfer, den Mund hinter einem Mikro verborgen, die Stimme elektronisch manipuliert. Ich wollte ihn sehen, wenn er verwundbar war, nervös und unsicher, vielleicht sogar ängstlich - und genau so sehr er selbst wie ich gestern Abend.
Die Tür war nur angelehnt, und ich blieb davor stehen, um mich zu sammeln. Jemand sprach, ich erkannte Peters Stimme und verstand jetzt auch, was er sagte:
„Shit, Paul, du musst es ihm sagen. Ich meine, das kann doch nicht so weitergehen. Ein Flirt im Pub, ne schnelle Nummer im Hotel, und dann ziehst du wieder ab?! Glaubst du, das macht der lange mit?“
„Ich weiß, Pete“, Pauls Stimme klang gequält. „Aber ich kann nicht. Es wäre zuviel für ihn. Du hast es nicht gesehen, aber es ist hart für ihn, glaub’ mir. Wenn ich ihm auch noch davon
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