Im Schatten des Drachen
erzähle ...“
„Kannst du heute überhaupt spielen?“, fragte Tom, und ich hörte deutlich die aufrichtige Besorgnis in seiner Stimme.
„Ja, es geht schon, ich habe mich heute den ganzen Tag ausgeruht. Zumindest so gut es ging. Ich denke, ich kann durchhalten.“
Pete ließ noch immer nicht locker. „Mensch, Paul, zwei solche Lasten, das ist zuviel für dich. Du bist doch jetzt schon völlig überfordert damit. Ich meine, er ist ein feiner Kerl und alles, aber DAS musst du dir doch nun wirklich nicht antun ...“
Paul antwortete nichts darauf, doch die unausgesprochene Drohung, die in seinem Schweigen lag, konnte ich durch die halb angelehnte Tür spüren. Dann hörte ich ihn gefährlich leise antworten: „You have no right to say so.“
„Sorry, Paul.“
„It’s okay.“
Für eine Weile herrschte Stille, dann hörte ich Füße scharren, Papier knistern und schließlich die ersten zaghaften Töne von Pauls Violine. Offenbar begann er, sich einzuspielen. Suchte er in seiner Musik die Flucht nach vorne, ließ mich einfach hinter sich? Ich wollte von der Tür zurückweichen, trat jedoch einem inneren Impuls folgend noch näher an sie heran und schob sie ganz leise ein Stückchen weiter auf.
Ihr improvisierter Proben- und Umkleideraum war eigentlich eine Abstellkammer, in der Bierfässer, Kisten und Ersatzstühle gelagert wurden. Tom saß auf einem Bierfass und trommelte gedankenverloren auf seinem Bordhán herum, während Paul mit dem Rücken zu mir gewandt sehr aufrecht dastand, sein Instrument ans Kinn gelegt hatte und es offenbar stimmte. Irgendwie konnte ich nicht genug von dem Anblick seines geschmeidigen Körpers bekommen. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, was für einen knackigen Hintern er hatte. Verboten sexy.
Leise drangen die vertrauten Klänge zu mir herüber, dissonant, doch wunderbar leicht und fein wie Spinnweben im Altweibersommer. Glücklicherweise drehte er sich nicht um, sondern vertiefte sich immer weiter in die Klänge seiner Geige, bis auch ich plötzlich die Melodie erkannte, die er da spielte. Es war eines der Lieder, die wir gestern Abend gehört hatten. Etwas abgewandelt zwar, aber unverkennbar eines von Marcs Stücken. Mein Lieblingsstück. Das einzige, das auch ich auf dem Klavier spielen konnte. Im Geiste sang ich es mit: ‚Somewhere over the rainbow ...’ Mein Mund wurde trocken und meine Augen feucht, als ich der vertraut-fremden Melodie lauschte, die in meinem inneren Ohr ganz anders klang, als sie jetzt an mein äußeres drang.
Tom fiel mit seinem Bodhrán ein, und auch Peter setzte die Flöte an die Lippen. Sie waren wirklich Künstler, denn mit ihrem Improvisationstalent machten sie aus der kleinen Melodie ein Stück, das so klang, als hätten sie es tausendmal gewissenhaft geprobt. Ich stand stumm da und lauschte, betrachtete das Spiel seiner Rückenmuskeln unter dem dünnen Hemd, während er den Bogen strich, beobachtete seine Hände, die weich und geschmeidig über die Saiten glitten und dachte daran, wie sie mich gestern noch gestreichelt hatten, verwöhnt und verführt wie diese kleine Melodie.
Plötzlich brach er abrupt ab und warf den Kopf in den Nacken. Peter gab einen irritierend unangenehmen Fiepton von sich, und schließlich trommelte Tom alleine weiter.
„Ach was soll’s, er kommt heute sowieso nicht“, stöhnte Paul schmerzvoll auf. „Ich habe ihn gestern sitzen lassen, und vielleicht ist es wirklich besser so, Pete. Vielleicht hast du recht, es ist sinnlos, einfach zuviel. Ich muss ihn vergessen, es ist zu verrückt ...“
Rasch und völlig lautlos zog ich mich zurück. Offenbar war es doch falsch gewesen, hierherzukommen.
Wie betäubt taumelte ich durch den Pub. Mein Verstand suchte den Ausgang, doch mein Herz, und irgendwie auch meine Beine, besonders das linke, wollten sich nicht so leicht zum Gehen überreden lassen. Unbeirrbar steuerten sie auf die Bar zu, zwangen mich auf einen Barhocker und schlangen sich fest um dessen Stuhlbeine wie zwei trotzige Schlangen. Natürlich ging das alles nicht von alleine, aber okay, ich ergab mich diesem inneren Zwang und bestellte mir ein Pint, um abzuwarten, was nun kommen sollte.
Das Konzert war wie immer wunderbar, die drei entfesselten mit ihrer Show und ihrem Charme mühelos die Gemüter und das Temperament der Pubbesucher. Ich dagegen bekam nicht viel davon mit, denn während ein Lied nach dem anderen an mir vorbeirauschte, hing ich meinen Gedanken nach. Was war nur diese Doppelbelastung, die
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