Im Schatten des Drachen
Rechnungen würden sie übernehmen. Mir kam kurz in den Sinn, dass für die vielleicht dreißig Guinness und sonstigen Getränke ihre gesamten Einnahmen des heutigen Tages draufgehen würden, ohne Trinkgeld, denn Tom hatte seinen Hut noch nicht rumgehen lassen. Widerstandslos ließ ich mich von dem allgemeinen Strom dem Ausgang zudrängen. Erst an der Tür gelang es mir, auszuscheren und mich in eine hintere Ecke des Pubs zurückzuziehen, von wo aus ich das weitere Geschehen beobachten konnte. Paul wurde auf einer Trage zu dem draußen bereits wartenden Krankenwagen gebracht. Im Vorbeigehen erhaschte ich einen Blick auf sein jetzt furchtbar blasses Gesicht, und ein Schauer jagte mir über den Rücken. War er überhaupt noch da?
Peter und Tom waren bereits damit beschäftigt, die Anlage abzubauen und die Mikrofone in Kisten und Koffern zu verstauen. Zunächst schienen sie mich nicht zu bemerken, als ich zögernd aus meinem Versteck hervorkam und mich ihnen näherte - oder sie wollten nicht. Ein bisschen war ich froh darum, weil ich selbst noch immer nicht genau wusste, ob ich wirklich bemerkt werden oder doch lieber abhauen wollte. Eine Bewegung neben mir ließ mich den Kopf drehen, und ich sah mich selbst im Spiegel hinter der Bar: kreidebleich, unbeholfen, mit zittrigem Blick wie ein gehetztes Tier, das den letzten Fluchtweg sucht.
Auf einem Lautsprecher lag aufgeklappt ein schwarzer Geigenkasten, der mich irgendwie magisch anzog. In diesem ganzen Chaos aus Kabeln, Mikros und Strahlern war das der einzige Gegenstand, der meine Aufmerksamkeit fesselte. Verstohlen warf ich einen Blick hinein und sah erwartungsgemäß Pauls Geige darin liegen. Sie kam mir plötzlich so klein vor, blass und zerbrechlich, wie sie da so auf dem roten Samt lag. Wie Pauls Gesicht auf dem grünen Tuch der Trage. Seltsam, dass so ein winziges, unscheinbar wirkendes Instrument in Pauls Händen so großartige Musik hervorbringen konnte. Vorsichtig holte ich die Geige aus ihrem Bett heraus.
Peter hörte die Saiten klingen und blickte als erster auf, beobachtete mich, wie ich das Instrument begutachtete. Ich brauchte nicht lange, um den verbogenen Wirbel und die schreckliche Schramme an der Zarge zu entdecken. Zärtlich fuhr ich sie mit meinem Finger entlang, als könnte ich sie dadurch heilen und überhaupt alles wieder gutmachen. Plötzlich wurde mir das Instrument mit einer ungeduldigen Bewegung aus den Händen genommen und dann ganz sacht in den Kasten zurückgelegt. Ich blickte Peter fragend an.
„Das ist beim Sturz passiert“, erklärte er unwirsch. Der unverhohlene Vorwurf in seiner Stimme und die Wut in seinem Gesicht versetzten mir nachträglich eine saftige Ohrfeige. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich von mir ab. Machte er mich etwa für Pauls Zusammenbruch verantwortlich? Aber ich hatte doch überhaupt keine Ahnung, was hier eigentlich los war!
Es war Tom, der mich schließlich beiseite nahm und die Geduld für eine Erklärung aufbrachte.
„Paul ist Epileptiker, Matty. Normalerweise hat er die Sache gut im Griff, nimmt Medikamente ein, die die Anfälle unter Kontrolle halten. Vielleicht hat er in den letzten Tagen nicht mehr richtig darauf geachtet, seit er dich ... in dem Chaos, das da plötzlich ausgebrochen ist. Er braucht eigentlich viel Ruhe und Stetigkeit, die Auftritte in den Sommermonaten fordern ihm immer schon viel Kraft ab. Aber wir brauchen das Geld alle drei, und die Musik ist sein Lebenselixier, und solange alles nach einem gewissen Plan läuft, ist auch alles okay. Tja ...,“ er wickelte umständlich ein Kabel auf, während ich ihm wie gebannt lauschte. „... und dann tauchtest du plötzlich auf, und er war wie durch den Wind, hibbelig, nervös, überdreht. Mal superglücklich, mal zu Tode betrübt, und jeden Tag ein bisschen mehr. Das konnte nicht gut gehen, jedenfalls nicht mit dieser Heimlichkeit. Well, nun weißt du ja darüber Bescheid.“
Ich schluckte. Ja, nun wusste ich über alles Bescheid. Und doch auch wieder über gar nichts. „Warum hat er es mir denn nicht gesagt?!“
Die Frage war mehr ein Schrei, ein verzweifelter Protest gegen etwas, das zu ändern ich nicht die Macht hatte.
Tom drehte sich zu mir um, und im Gegensatz zu Peters las ich in seinem Gesicht einen unendlichen Schmerz, als trauerte er um das Leid eines kleinen Bruders, den er sehr liebte, dem er aber nicht helfen konnte.
„Das müsstest du doch selbst am besten wissen, Matty. Er wollte dich damit nicht belasten, weil du
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