Im Schatten des Drachen
Paul so quälte? Was war es, was er mir nicht zumuten wollte? Oder wer? Aber er hatte doch gesagt, dass es da keinen anderen gab! Und was, wenn es wie bei Marc war? Wenn alles ganz anders war und ich es nur falsch verstanden hatte? Was, wenn ich wieder fallen würde ...
Erst mit einiger Verzögerung wurde ich mir des plötzlichen Tumults um mich herum bewusst. Menschen waren aufgesprungen, vereinzelt erklangen erschrockene Hilferufe, aber sonst herrschte ein entsetztes, fassungsloses Schweigen. Die Musik war verstummt, die Musiker nicht mehr zu sehen. Verstört reckte ich den Hals, wagte jedoch nicht, mich zu erheben. Schließlich hörte ich Toms tiefe Stimme, die in der lähmenden Stille wie ein Glockenton dröhnte.
„Bitte, bleiben Sie ruhig, es ist nichts, gar nichts. Es ist alles in Ordnung. Ist ein Arzt anwesend? Kann jemand einen Arzt rufen?“
Die unterdrückte Panik in seiner Stimme alarmierte etwas in mir, und ich glitt nun doch vom Barhocker. Was war denn hier los? Wo waren Paul und Peter? Erst langsam, dann immer hastiger drängte ich mich nach vorne, schob die glotzenden Leute ungeduldig beiseite, fiel fast über einen Stuhl. Noch nie hatte ich mich so sehr geärgert, weil ich nicht so rasch vorankam, wie ich gerne wollte. Endlich erreichte ich die Bühne - und blieb wie angewurzelt stehen. Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen, mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und mein Herz stockte erst, um dann wie wild weiter zu rasen.
Peter kniete auf dem Boden, in der einen Hand die Flöte, die andere auf Pauls Schulter gelegt, der zusammengekrümmt wie ein Wurm auf dem Parkett lag und wild zuckte. Kein Laut kam über seine Lippen, seine weichen Hände waren zu harten Fäusten zusammengepresst, seine Beine strampelten in der Luft, und sein Kopf bewegte sich ruckartig vor und zurück. Sein ganzer, schöner Körper war ein einziger Krampf, sein hochrotes Gesicht zu einer grotesken Fratze entstellt. Zwischen den verzerrten Lippen rann ein dünner Speichelfaden hervor.
Fassungslos starrte ich auf das herab, was nicht im entferntesten an den sinnlichen, anmutigen Paul von noch vor einer Stunde erinnerte, und angesichts dieses brutalen Persönlichkeitswandels konnte ich minutenlang nichts anderes denken als: ‚Scheiße!!! Scheiße, ...!!!’ und irgendwann voll verächtlicher Verzweiflung: ‚Hör auf, Paul, hör damit auf!!!’, bis mir irgendwann klar wurde, dass er das nicht konnte. Millionen Zehntelsekunden später wurde mir auch klar, dass ich eigentlich zu ihm gehen, mich zu erkennen geben sollte als einer von ihnen, der dazugehörte.
Aber ich traute mich nicht.
Ich kam mir plötzlich so hilflos und verwundet vor wie vor fünf Jahren. Genau wie damals fühlte ich mich um mein Glück betrogen, als ich Paul jetzt so daliegen sah, klein, hilflos, unkontrolliert, gedemütigt. Da war nichts mehr von dem süßen Softie mit den Zauberhänden, der mich verführt hatte. Auch nichts von dem arroganten Macho, der mich nach getaner Arbeit einfach liegen gelassen hatte. Mit beidem hätte ich fertig werden können. Aber damit? Mein Speichel schmeckte plötzlich bitter, reizte mich beinahe zum Würgen, und ich verdrehte die Augen, um die aufkommende Übelkeit hinunterzuschlucken. Im selben Moment begegnete mir Peter mit seinem Blick, taxierte mich erst überrascht, dann fragend, doch schließlich, als er mein Zögern bemerkte, zutiefst abschätzig.
Nach einer gefühlten Ewigkeit - in Wahrheit war das alles eine Sache von vielleicht drei Minuten gewesen- rief jemand: „Ein Arzt ist unterwegs. Er kommt gleich.“
Und endlich ließen Pauls Zuckungen nach, er wurde ruhiger, sein Kopf sank auf den Boden, die Beine verharrten in einem grotesken Winkel auf dem Parkett. Peter beugte sich über ihn, strich ihm vorsichtig die Locken aus der schweißüberströmten Stirn und legte ihm sein Hemd wie eine Decke über die Schultern.
„Es ist vorbei, er schläft jetzt“, erklärte er der Menge, doch seine Augen schienen nur mich anzublicken. Der unausgesprochene Vorwurf darin provozierte mich bis aufs Blut, und ich starrte mit unverhohlener Aggression zurück. Was hätte ich denn tun sollen?
Als der Arzt den Pub betrat, kam Bewegung in die Menge. Alle schienen erleichtert aufzuatmen, als würde die Anwesenheit eines Fachmannes den Bann aus Schock und Ratlosigkeit von ihnen nehmen. Und nun ging auch plötzlich alles sehr schnell. Während der Arzt Paul untersuchte, drängten Peter und Tom die Leute, hinauszugehen. Die
Weitere Kostenlose Bücher